„Meine Frau und ich sind seit fast zehn Jahren ein Paar, seit acht Jahren verheiratet – und ich liebe und schätze sie nach wie vor sehr. Was aber von Anfang an echt schwierig war für mich und auch zwischen uns, ist ihr Verhalten, wenn wir nicht einig sind, ich Kritik übe oder ihr sonst eine Laus über die Leber gelaufen ist. Dann verkriecht sie sich in ihr Schneckenhaus und spielt die beleidigte Leberwurst. Das dauert manchmal nur ein paar Stunden, manchmal Tage – in dieser Zeit komme ich überhaupt nicht an ihn heran! Das stört unsere Beziehung immer wieder – und wir würden gerne damit umgehen lernen (meine Frau tatsächlich auch, sie weiß, dass ich diese Frage stelle).“

 

 

In meiner Familie sind wir Handwerksmeister im Bau von Schneckenhäusern samt Eisenriegel und dickem Schloss davor. Wir haben alle gelernt, wie wichtig es ist, sich in einem Konflikt möglichst schnell in Sicherheit zu bringen. Und je länger wir drin bleiben, desto sicherer ist es. Über die Jahre habe ich allerdings auch gelernt, dass es mit der Zeit immer schwerer wird, das Schneckenhaus von innen wieder aufzuschließen und herauszukommen. Und für alle Außenstehenden ist mein Rückzug schier unerträglich. Ob Schneckenhaus oder Leberwurst: Beleidigte, eingeschnappte Menschen sind schwer zu händeln. Aber, heute weiß ich durch wissenschaftliche Forschung: Sie sind zu händeln!

 

Wenn Schutz alles ist

Wer beleidigt ist, stur an seiner Meinung festhält und für keine sinnvollen Argumente offen ist, leidet unter einer Grundeinstellung, die uns Menschen einprogrammiert ist, und die unser Überleben sichern soll: die sogenannte „Refraktärphase“. Zu Beginn jeder emotionsgeladenen Episode – und jeder Konflikt ist so eine Episode – gibt es eine Zeitspanne, in der unser Gedächtnis all unser gespeichertes Wissen und alle Informationen so filtert, dass wir nur Zugriff auf das haben, was die von uns empfundene Emotion nährt. Wenn ich mich also aus irgendeinem Grund ungerecht behandelt fühle und daher emotional reagiere, dann hänge ich eine Zeit lang quasi in mir selbst fest. Da kommen die besten Argumente und schlausten Tipps nicht an mich ran, weil mein Gehirn all das herausfiltert, um mich zu schützen. Ich sehe die Welt dann aus meinem sehr verengten Blickwinkel – und schnappe beleidigt ein, werde zur Leberwurst und verschanze mich in meinem Schneckenhaus.

Wir alle haben gelernt, wie wichtig es ist, sich in einem Konflikt möglichst schnell in Sicherheit zu bringen.

Die Refraktärphase hat dann einen großen Nutzen, wenn sie in heiklen Situationen meine Aufmerksamkeit auf das eine Wichtige lenkt und alles andere um meiner selbst willen ausblendet. In dieser Zeit kann ich mich voll und ganz auf das anstehende Problem konzentrieren und das Wichtigste an Wissen heranziehen, um mein erstes Handeln zu lenken und den Grundstein für weitere Aktionen zu legen. Dauert diese Phase allerdings länger als wenige Sekunden an, also Minuten oder gar Stunden, fällt meine emotionale Reaktion unangemessen aus: Schneckenhaus oder Leberwurst. Wie lang die Refraktärphase üblicherweise anhält, hängt von Prägung und Persönlichkeit ab.

 

Wenn ich also weiß, dass hier eine Herausforderung meines Lebens liegt, kann ich sie händeln lernen. Das beginnt damit, diese Refraktärphase zu erkennen und als Teil meiner Persönlichkeit anzuerkennen. Ich finde, dass allein das schon entlastet.

 

Strategien gegen das Einschnappen

Im nächsten Schritt kann ich dann Strategien erarbeiten, gerne mit meinem Umfeld gemeinsam – in diesem Fall: Sie als Ehepartner –, wie wir mit der verlängerten Refraktärphase umgehen. Fakt ist: Entschärfende Argumente und Informationen helfen nicht, weil die einfach nicht ankommen. Stattdessen hilft häufig, die Szene tatsächlich zu verlassen. Aber nicht im Sinne des beleidigten Weglaufens, sondern im selbstfürsorglichen Zeitnehmen zum Betrachten und Neubewerten der Situation. Ein guter Zugang zu sich selbst und den eigenen Gefühlen ist dabei äußerst hilfreich. Denn dann kann ich frühzeitig absehen lernen, wann ich wieder einzuschnappen drohe. Und wenn es soweit ist, kann ich es schnell erkennen und mich mir selbst und anderen gegenüber höchst liebevoll eine Zeit lang aus dem Verkehr ziehen. Vielleicht sind Schneckenhäuser für diese Zeit gar nicht so schlecht… Schloss und Riegel allerdings würde ich abbauen, und sie einfach als diesen heilsamen, hilfreichen Ort gestalten lernen.

Die Refraktärphase hat einen großen Nutzen, wenn sie in heiklen Situationen meine Aufmerksamkeit auf das eine Wichtige lenkt und alles andere ausblendet.

Das funktioniert bei mir mittlerweile sehr gut auch mit Humor: Die Leute, mit denen ich zusammenlebe, schicken mich manchmal liebevoll in meinen Rückzugsort oder sagen spaßig: „Dauert deine Refraktärphase mal wieder bisschen länger?“ Mit einem Schmunzeln kann ich diese tatsächlich verkürzen und habe eine echte Chance, mir selbst und meinen Gefühlen immer besser auf die Spur zu kommen.

BUCHTIPPS ZUR VERTIEFUNG

 

Kopf hoch – Das kleine Überlebensbuch bei Stress, Ärger und anderen Durchhängern von Claudia Croos-Müller, 48 Seiten, Kösel Verlag

 

Halt! – Das kleine Überlebensbuch: Soforthilfe bei Krise, Verzweiflung, Ausrastern und Co. von Claudia Croos-Müller, 72 Seiten, Kösel Verlag

TINA TSCHAGE

hat Theologie und Personal- und Organisationsentwicklung studiert und das Handwerkszeug der Redakteurin erlernt. Sie lebt als Single-Frau in einer christlichen Gemeinschaft in München und arbeitet freiberuflich als Coach, Speakerin und Autorin.

 

www.tina-tschage.de 

Die Fragen in unserer Rubrik „Lebensfragen“ sind aus dem Erfahrungshintergrund der Beraterinnen und Berater exemplarisch formuliert worden, sodass jederzeit strenge Vertraulichkeit gewährleistet bleibt. Wir veröffentlichen keine seelsorgerlichen Anfragen an die Redaktion ohne vorherige ausdrückliche Genehmigung der Ratsuchenden.

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