MINDO: Frau Pickard, leichter leben – danach sehnt sich eigentlich jeder. Warum löst allein der Gedanke an Leichtigkeit eigentlich so ein positives Gefühl in uns aus?
KEREN PICKARD: Ich denke, wir alle sehnen uns nach der Erfahrung, nicht permanent verantwortlich für Dinge und andere Menschen sein zu müssen. Für mich geht es bei einem leichteren Leben darum, nur an mich selbst und den aktuellen Moment denken zu müssen, mich einfach im Glanz des Seins zu sonnen, anstatt von ständigem Tun heruntergezogen zu werden. Ich denke an ein Kind in einer Hängematte, das in den Bäumen schaukelt, ohne eine Sorge auf der Welt!
Was macht uns das Leben heute denn am ehesten schwer? Die Menschen vergangener Jahrhunderte mussten ganz objektiv betrachtet sicher häufig unter schwierigeren Bedingungen leben als wir. Oder ist das ein Irrtum?
PICKARD: Ich glaube, wir haben das Konzept der Produktivität vergöttert! Alles ist messbar, und wir haben Todesangst, nicht zu genügen! Wir haben die Tatsache ignoriert, dass die Messlatte eine idealisierte Version der Realität ist und dass wir nie so produktiv sein werden, wie wir denken, dass wir es sein sollten. Und dieser Druck macht uns schwer.
Nun ist „Ich will leichter leben“ natürlich leichter gesagt, als getan. An was scheitern die meisten bei der Umsetzung?
PICKARD: Ich denke, für viele ist es schwer, „Nein“ zu den unnötigen Verpflichtungen und „Ja“ zu ihren eigenen Bedürfnissen und Prioritäten zu sagen. Wir haben Angst davor, was andere denken werden, wenn wir weniger tun. Wir haben Angst vor dem Loch, das wir in das Gefüge unserer sozialen, religiösen und beruflichen Netzwerke reißen, wenn wir einige der Seile durchschneiden, die uns festhalten. Das ist eigentlich eines der Dinge, für die ich in diesem vergangenen Jahr am dankbarsten bin. Corona hat einige dieser Bindungen für mich durchtrennt, und es war unglaublich befreiend, mich wieder auf die Elemente meines Lebens zu konzentrieren, die am wichtigsten und erfüllendsten sind.
Wir alle sehnen uns nach der Erfahrung, nicht permanent verantwortlich für Dinge und andere Menschen sein zu müssen.
Jemand, der sein Berufs- oder Beziehungsleben oder auch einfach seine Freizeit leichter gestalten möchte, kann aber schwerlich alle Baustellen zugleich in Angriff nehmen. Was wäre ein umsetzbarer erster Schritt?
PICKARD: Man sollte sich als Erstes fragen: „Welche Beziehungen sind in diesem Moment am wichtigsten in meinem Leben? Und wie wird sich die Reduzierung meiner Belastung positiv auf diese Beziehungen auswirken?“ Es ist eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse. Die Chancen stehen gut, dass die „kleinen Füchse“ den Weinstock zerstört haben und dass Sie, wenn Sie diese zerstörerischen Elemente identifizieren und entfernen, sofort eine viel höhere Lebensqualität genießen werden!
Wie wirkt es sich auf einen Menschen aus, wenn er sein Leben dann tatsächlich leichter macht, indem er seinen Alltag, seine Beziehungen, seine Arbeit, und vielleicht auch seinen Glauben „entrümpelt“?
PICKARD: Man wird viel mehr im Einklang mit den eigenen Prioritäten und Bedürfnissen leben und infolgedessen authentischer sein (wage ich zu sagen, ehrlicher?). Es wird andere Menschen dazu herausfordern, einen für das zu lieben, was und vor allem wer man sind – und nicht nur für das, was man für sie tun kann.
Und wie vermeidet man, dass diese Übung am Ende zum Egotrip wird, der auf Kosten anderer geht, allem voran des Partners oder der Kinder?
PICKARD: Ich denke, es ist wichtig, sich an das Konzept des Bündnisses zu erinnern, im Gegensatz zum Konzept des Vertrags: Wenn ich die Entscheidung treffe, leichter zu leben, entscheide ich mich bewusst dafür, die Elemente meines Lebens zu entfernen, die es mir erschweren, die beste Version meiner selbst für diejenigen zu sein, die mir am nächsten sind, zum Beispiel mein Ehepartner, meine Kinder, u. a. Der Bund stellt die Frage: „Was kann ich dir geben, damit du gedeihen kannst?“ Im Gegensatz dazu steht der Vertrag, der fragt: „Was kann ich aus dieser Beziehung für mich herausholen?“ Wenn jeder Partner einer Haltung des Bündnisses verpflichtet ist, werden sie weiter nach Möglichkeiten suchen, unnütze Verpflichtungen und Energiefresser loszulassen, und Ehepartner und Kinder werden nichts zu fürchten haben.
Bitte ergänzen Sie: „Leichter leben“ lohnt sich, weil …
PICKARD: … weil Fliegen mehr Spaß macht als Sinken!
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Sabine Müller.
KEREN PICKARD
ist gebürtige Amerikanerin, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Die 43-Jährige ist zertifizierter „Mut-Coach“ und Rednerin und hilft Menschen, mutiger zu entscheiden und zu kommunizieren. Sie hat Artikel für diverse christliche Magazine (u. a. Charisma, Lydia) geschrieben und engagiert sich ehrenamtlich im Mentoring christlicher Leiterinnen bei Beyond e. V.