MINDO: Ira, du bist ein großer Fan von Paarbeziehungen – so sehr, dass du sogar hauptberuflich Paare therapeutisch begleitest. Warum ist dir das ein Anliegen?
IRA SCHNEIDER: Die meisten von uns kennen den Satz „Eine Partnerschaft ist die kleinste Zelle der Gesellschaft“, und ich finde, da ist tatsächlich viel dran. Auch aus der Forschung weiß man mittlerweile, dass Menschen, die in einer glücklichen Beziehung leben, im Vergleich gesünder sind, körperlich wie psychisch. Und auch Kinder profitieren davon, wenn Eltern in einer funktionalen Partnerschaft leben.
Als Paartherapeutin führst du regelmäßig Gespräche mit Paaren, allem voran mit solchen, die in Krisen stecken. Was sind denn deiner Beobachtung nach die klassischen Problemfelder in Beziehungen?
IRA SCHNEIDER: Oft geht es in Konflikten darum, dass Paare das Gefühl haben, dass sie einander emotional nicht erreichen. Sie wollen einander nahe sein, strecken sich nach einander aus – und fühlen sich doch einander fern. Aber anstatt sich einander verletzlich zu zeigen und die eigene Einsamkeit im Konflikt mitzuteilen, gehen sie in die Reaktivität: sie reagieren wütend oder gereizt. In der Regel sind das jedoch Schutzgefühle, die vor tieferliegenden Kernemotionen wie Angst oder Einsamkeit unbewusst schützen sollen.
Einsamkeit ist eines der Gefühle, vor denen Paare am meisten Angst haben, und darum alles tun, um sie nicht zu spüren.
Diese Dynamiken entladen sich dann in inhaltlichen Diskussionen, die – natürlich nicht immer, aber oft – mit dem Kernproblem eher wenig zu tun haben. Da geht es dann um Dinge wie der Frage nach der Alltagsgestaltung, der Kindererziehung, um Herausforderungen in der Sexualität, den Umgang mit Finanzen und vieles mehr. Doch all diese Streitpunkte sind häufig lediglich das Ergebnis einer Spannungsdynamik, in der Paare darum kämpfen, wie sie einander emotional erreichen können. Beide ringen jeweils mit ihrer eigenen Bedürftigkeit, die sie versorgt sehen möchten. In den Auseinandersetzungen geht es dann oft um Macht oder Ohnmacht, aber auch um ein hohes Maß an Einsamkeit, doch das wird nicht verbalisiert.
Einsamkeit ist übrigens eines der Gefühle, vor denen Paare am meisten Angst haben, und darum alles tun, um sie nicht zu spüren. Dabei erfährt jeder von Zeit zu Zeit in einer Partnerschaft Einsamkeit – und zwar in den Momenten, wo Paare erleben, dass sie den anderen nicht erreichen, nicht in ihm wirken, wo ihr Schmerz, ihr Ärger und ihre Not nicht gesehen werden. Genau das als Paar anzuschauen und sich dem Schmerz gemeinsam zuzuwenden, kann sehr heilsam sein.
Das heißt, in vielen Auseinandersetzungen geht es gar nicht um das, worum vordergründig gestritten wird?
IRA SCHNEIDER: Ja, das ist meine Überzeugung – auch wenn das die Leute manchmal aufbringt. Ich habe schon viele solcher zugespitzten Konfliktdynamiken gesehen, wo ein Paar die ganze Zeit beispielsweise über den Wohnort gestritten hat und keiner der beiden auch nur ein kleines Stück nachgeben wollte. Diesen Paaren sage ich dann behutsam, dass es vielleicht eigentlich gar nicht um den Wohnort geht, auch wenn sie das nur schwer und manchmal gar nicht annehmen können.
Du hast ein Buch mit dem Titel „Jeden Tag ein neues Ja“ geschrieben, das soeben erschienen ist, in dem du viel über die „Ja-Gesinnung“ schreibst, die Paare brauchen. Was genau meinst du damit?
IRA SCHNEIDER: Als Ja-Gesinnung bezeichne ich eine Haltung, die sich durch eine hohe Bereitschaft auszeichnet, sich emotional für die Paarbeziehung zu engagieren. Diese Gesinnung sagt Ja dazu, sich mit den verschiedenen Themenfeldern und Herausforderungen des Paarseins zu beschäftigen, beispielsweise mit der eigenen Biografie, dem Finden einer gemeinsamen Sprache oder auch mit dem Etablieren hilfreicher Rituale im Alltag.
Klingt erst mal nach viel Arbeit und wenig Romantik. Apropos Romantik: Wieviel Schuld trägt eigentlich Hollywood an unserer Sicht auf Liebe und Partnerschaft? Und noch wichtiger: Wie gewinnen wir wieder ein realistischeres Bild?
IRA SCHNEIDER: Ich denke, Hollywood spielt mit unseren Sehnsüchten. Und doch steckt in jeder überspitzten Darstellung ja auch immer einen Funken Wahrheit. Mein Anliegen ist es, jedes Paar individuell und behutsam dabei zu begleiten, sein ureigenes Paar-Sein zu formen. Hier gibt es keine Schablonen. Jedes Paar muss für sich entscheiden, ob es sich in der Beziehung, in der es lebt, geborgen fühlt. Denn darum geht es letztlich in der Partnerschaft: um Geborgenheit und echten emotionalen Schutz.
Die Ja-Gesinnung ist die aufrichtige Willensbekundung, dem anderen in seiner Bedürftigkeit mit Liebe zu begegnen, so wie er es braucht.
Natürlich beinhaltet die Haltung „Jeden Tag ein neues Ja“ ein gewisses Maß an Arbeit, die man jedoch aus wohlwollender Freiwilligkeit gerne tut. Ich verstehe dieses Ja als die aufrichtige Willensbekundung, dem anderen in seiner Bedürftigkeit mit Liebe zu begegnen, so wie er es braucht. Das hat an manchen Tagen fluffig-blumige und romantische Aspekte, und an anderen Tagen besteht es aus der Haltung, sich trotz Stolpersteinen immer wieder zuwendend zu begegnen.
Also geben zu viele Paare zu schnell auf?
IRA SCHNEIDER: Ich unterstelle erst einmal allen Menschen, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes geben und niemand einfach so die Flinte ins Korn wirft. Wenn Paare sich trennen, gibt es eigentlich immer einen unbändigen Schmerz.
Und was machen glückliche Paare besser?
IRA SCHNEIDER: Ich spreche statt von glücklichen lieber von „zugewandten Paaren“. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr nah am Innenleben und der Gefühlswelt des jeweils anderen und auch an ihrer eigenen dran sind, und das in einer regelmäßigen Frequenz und nicht in zu weiten Abständen. Zugewandte Paare haben gelernt, ihr inneres Erleben dem anderen sprachlich zur Verfügung zu stellen, sprich: sich so mitzuteilen, dass der andere es auch versteht. Sie besitzen die Fähigkeit, sich auf Gespräche einzulassen und haben gelernt, eine sichere Bindung zueinander aufzubauen und sich einander verletzlich zu zeigen.
Würdest du sagen, dass sich grundsätzlich jede Beziehung erneuern kann?
IRA SCHNEIDER: Ich würde nie prognostische Aussagen für eine Allgemeinheit treffen. Aber meine grundsätzliche Haltung ist die, dass Paare sich zu jedem Zeitpunkt selbst eine Chance geben können. Wenn beide Partner eine hohe Kooperationsbereitschaft mitbringen, dann haben sie sich ihre eigene Chance bereits geschaffen.
Du sprichst in deinem Buch einige Aspekte an, die zu Konflikten in Beziehungen beitragen können. Einer davon ist der „biografische Rucksack“, den jeder mit sich herumträgt. Warum ist es wichtig, dass man sich den anschaut?
IRA SCHNEIDER: Wir alle lernen an unseren primären Bindungspersonen – also in der Regel bei unseren Eltern – sogenannte „Beziehungsrepräsentanzen“. Das heißt: Wir verinnerlichen Bilder und Muster, wie Beziehungen funktionieren. Und diese reinszenieren und übertragen wir dann in die neuen Beziehungen, die wir eingehen. Das kann sich mal als hilfreich erweisen und uns zur Verbundenheit führen und mal weniger hilfreich sein.
Ein Beispiel: Wenn wir als Kind immer das Gefühl hatten, zur Last zu fallen, dann haben wir gelernt, uns anzupassen, weil das unser emotionales Überleben in der Familie garantierte. Hier ist mir wichtig zu betonen, dass das für das Kind brauchbare Kompetenzen waren – nur später, im Hier und Jetzt, sind sie eben nicht immer hilfreich. Es ist nicht förderlich, wenn man sich als Erwachsener stets nur anpasst und eigene Bedürfnisse nicht formuliert. Das war vielleicht als Kind nötig, um sich weiterhin gewollt und angenommen zu fühlen. In der erwachsenen Paarbeziehung macht es jedoch Sinn, diese alten Kompetenzen noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen, ob diese Strategien heute noch gut sind. Oder ob es nicht vielleicht doch besser ist, damit anzufangen, seine Bedürfnisse zu artikulieren. Denn: Mein Partner oder meine Partnerin kann nun mal keine Gedanken lesen.
Du wünschst Paaren, dass sie den Gestaltungsraum ihrer Beziehung entdecken. Das klingt ohne Frage wunderbar. Aber sicher hat so manches Paar zwischen Kindererziehung, Job und alternden Eltern eher das Gefühl, dass es von äußeren Zwängen dirigiert wird, als dass da viel Gestaltungsraum übrig wäre…
IRA SCHNEIDER: Hier möchte ich Paare wirklich entlasten. Denn was nicht passieren darf ist, dass Paarbeziehungen mit in den Leistungsmarathon einsteigen, den wir sowieso schon laufen. Viele Paare leisten oft auf so vielen Ebenen so unglaublich viel, dass es einfach nicht drin ist, jeden Monat ein tolles Candlelight-Dinner zu machen, das ist völlig klar! Was aber jedes Paar lernen kann ist, Gelegenheiten zur Gestaltung wahrzunehmen und dann auch umzusetzen. Mein Mann und ich verabreden uns zum Beispiel zu „Wäsche-Aufhäng-Dates“, bei denen wir dann um 23 Uhr gemeinsam die letzte Ladung Wäsche aufhängen. Einfach, um bewusst Zeit miteinander zu verbringen, uns auszutauschen und ins Gespräch zu kommen. Auch so etwas kann ein Date sein.
In meinem Buch biete ich übrigens Paaren sehr viele Ideen für Rituale an, die sie in ihren Alltag implementieren können. Ich empfehle immer, sich eine Sache herauszupicken und diese erst einmal ein Jahr lang zu ritualisieren. Es geht nicht darum, sechzig Sachen gleichzeitig zu machen, sondern die eine, die jetzt gerade vielleicht dran ist. Und wenn sie lediglich daraus besteht, dass man den anderen jeden Tag oder auch nur einmal die Woche mit echtem Interesse fragt: „Wie geht es dir?“
Als Christin schöpfst du auch für deine Ehe viele gute Impulse aus deinem Glauben. Würdest du sagen, dass Christen grundsätzlich bessere Chancen haben, dass ihre Ehe gelingt? Oder ist das eine verkürzte Annahme, die auch gefährlich werden kann?
IRA SCHNEIDER: Das Besondere ist sicherlich, dass Christen Jesus Christus persönlich kennen und damit denjenigen, der die Liebe erfunden und der die Liebe verkörpert hat. Damit haben wir jemanden an unserer Seite, bei dem wir uns viel ganz viel abschauen können, wenn es darum geht, wie man liebt. Und auch jemanden, der uns im Blick auf unsere Bedürfnisse und Gefühle viel tiefer verstanden und durchdrungen hat, als unser Gegenüber es je könnte. Wenn man diese Erfahrung machen konnte, ist das etwas Wunderbares, das uns für unsere Beziehungen ganz viele Hoffnungsfunken schenken kann.
Jesus hat uns im Blick auf unsere Bedürfnisse und Gefühle viel tiefer verstanden und durchdrungen, als unser Gegenüber es je könnte.
Gleichzeitig beobachte ich, dass Christen nicht selten dahin tendieren, ihre Paarbeziehung zu externalisieren, sprich: sie nehmen ihr religiöses Setting als Regulativ für ihre Beziehung. Hier müssen vor allem gemeindlich engagierte Paare aufpassen, dass ihnen nicht ausschließlich die Gemeinde ihre Termine vorgibt oder sie sich ihren Paarinput allein aus Predigten holen. So wie alle Menschen müssen auch Christen vorsichtig sein, wie sie ihre zeitlichen Prioritäten verteilen und wo bei allem Engagement ihr Beziehungsraum bleibt.
Zu guter Letzt: Wenn du aus der Fülle deines Ehe-Werkzeugkastens Paaren nur zwei Dinge mitgeben könntest, die sie unbedingt beherzigen sollten – welche wären das?
IRA SCHNEIDER: Dass Paare mutig eine gemeinsame Sprache finden. Mut brauchen sie, weil es bedeuten kann, sich erst einmal mit der eigenen Sprachlosigkeit auseinanderzusetzen. Und als Zweites: Eine der wichtigsten Paarfragen lautet: „Wie kann ich dich erreichen?“ Darum sollten Paare sie einander stellen. Wenn wir lernen, die Gefühle des anderen anzuerkennen, sie zu validieren und ihnen Raum zu geben, anstatt sie zu bagatellisieren, dann kann Liebe aufblühen.
Liebe Ira, herzlichen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Sabine Müller.
1 Kommentar
[…] Partnerschaft: „Letztlich geht es um Geborgenheit“ […]
Auf diesen Kommentar antworten