Sexuelle Übergriffe, Gewalt und Machtmissbrauch – das Böse lebt, auch in christlichen Gemeinden! Die Opfer bleiben mit ihrem Erleben oft jahrelang allein, schweigen aus Angst und Scham. Die Psychologin und Seelsorgerin Daniela Splettstößer-Pache hat zahlreiche Betroffene begleitet und kennt die ungesunden Strukturen, die potenziellen Tätern in die Hände spielen. MINDO hat mit ihr gesprochen.

 

 

MINDO: Frau Splettstößer-Pache, Sie haben mit „Das Unfassbare begreifen“ vor kurzem ein Buch veröffentlicht, in dem Sie Gewalt und verschiedene Formen des Missbrauchs thematisiert haben, die leider auch in christlichen Familien und Gemeinden vorkommen. Wie oft begegnet Ihnen die Problematik in Ihrer Beratungsarbeit?

 

DANIELA SPLETTSTÖSSER-PACHE: Das kann man gar nicht so genau sagen, denn manche Formen des Missbrauchs werden spät oder gar nicht als solche erkannt. Nicht alle Fälle sind so eindeutig, dass man direkt merken würde, dass hier ein Kind sexuell missbraucht worden ist.

In der Regel habe ich es mit einer Mischung aus Kindheitserlebnissen und darauf aufbauenden Problemen im Erwachsenenalter zu tun. Viele Menschen, die in christlichen Kreisen Missbrauch erlebt haben, habe ich außerhalb der Praxis getroffen. Und bei Christen, die bei mir Hilfe gesucht haben, war auch Missbrauch sehr oft ein Thema, meist jedoch nicht das einzige.

 

 

Wo beginnen Gewalt und Missbrauch eigentlich? Gehört eine strenge Erziehung in gewisser Weise schon dazu?

 

In der Erziehung geht es ja immer darum, Kindern das mitzugeben, was sie für ein gutes, gelingendes Leben brauchen. Es geht also um das Wohl der Kinder. Missbrauch kann daher schon da anfangen, wo Schäden entstehen, weil Eltern zum Beispiel ihr eigenes Handeln nicht gut reflektieren oder lieblos sind. Das kann Vernachlässigung sein, unverhältnismäßige Strenge, körperliche und seelische Übergriffe, Demütigungen und Herabsetzungen. Das Einfordern von Gehorsam kann sowohl hilfreich als auch schädlich sein. Die Frage, die sich Eltern darum immer stellen müssen, lautet: „Geht es mir um das Wohl meines Kindes oder um die Machtfrage?“

Dasselbe sollte man sich übrigens auch in christlichen Gemeinden und Kreisen immer wieder fragen. Denn auch dort geht es viel zu oft um Macht. Wo dieses Streben zusätzlich in fromme Sprüche verpackt und mit Bibelversen untermauert wird, beginnt meist schon der geistliche Missbrauch.

 

Einfacher ist die Bewertung bei vorsätzlichem Missbrauch, der körperlich in Schlägen oder in sexueller Gewalt daherkommen kann. Im seelischen Bereich finden wir Erniedrigungen und Einschüchterung. Und in geistlicher Hinsicht geht es Tätern oft darum, Menschen und Begabungen kleinzuhalten, beziehungsweise ihnen im Namen Gottes „die Flügel zu stutzen“.

Leider finden sich in unserer Gesellschaft aber auch immer mehr Fälle von systematischer und ritueller Gewalt ab frühester Kindheit. Da kommt dann alles zusammen: Hier werden Menschen körperlich und sexuell, psychisch und geistlich ganz gezielt von Gruppen oder in Familien über mehrere Generationen hinweg geschädigt.

 

Wenn es um das Erkennen von Missbrauch geht, muss man also vor allem auf die „Früchte“ schauen und sich fragen: Entwickelt sich ein Mensch ganzheitlich positiv? Entfaltet jemand seine gottgegebenen Potenziale mit Freude? Hat er oder sie ein gutes Selbstwertgefühl? Hat jemand die Freiheit, kritisch zu prüfen und auch mal zu widersprechen? Wenn dem nicht so ist, sind in der Regel eine oder mehrere Varianten von Missbrauch im Spiel.

 

 

Gibt es eigentlich so etwas wie den „typischen Täter“?

 

Ich werde immer hellhörig, wenn Dinge nicht stimmig sind. So kann jede Form der Idealisierung wie „Ich habe die beste Familie der Welt!“, „Ich habe die beste Gemeinde!“ oder „Wir verstehen uns immer super und streiten nie!“, schon ein Hinweis auf Dissoziation sein, also auf eine Abkoppelung von der Realität.

Auch wenn Reden und Handeln nicht übereinstimmen, schaue ich lieber zweimal hin. Zum Beispiel, wenn die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nur von Männern gepredigt wird, und die Frauen sich ausschließlich in der Küche, bei den Kindern und im Putzteam der Gemeinde wiederfinden. Und noch hellhöriger werde ich, wenn Personen auf Positionen beharren und Autorität – gerne auch im Namen Gottes – einfordern.

 

Ich werde hellhörig, wenn Personen auf Positionen beharren und Autorität einfordern – gerne auch im Namen Gottes!

Den typischen Täter gibt es aber eigentlich nicht. Jeder kann zum Täter werden: Männer, Frauen, Jugendliche und sogar Kinder. „Täterschaft“ bedeutet Grenzverletzung und damit Zerstörung. Und aus der Bibel wissen wir, dass Zerstörung das erste und höchste Ziel von Satan, dem Widersacher Gottes, ist. Manche Täter sind so sehr in ihrem schrägen Denken gefangen, dass sie den Schaden nicht mehr überblicken, den sie anrichten; andere handeln mit voller Absicht. Und wieder andere wiederholen das, was sie als Kinder selbst erlebt haben.

 

 

Haben Sie den Eindruck, dass Christen im Blick auf Missbrauch in ihren eigenen Reihen eher blind sind?

 

Definitiv. Ich höre immer wieder mal die Aussage: „Hauptsache Christ!“ Aber: Christ ist nicht gleich Christ! Jesus Christus selbst sagte, dass nicht alle, die ihn „Herr“ nennen, auch wirklich zu ihm gehören. Da, wo mir von Missbrauch und auch Vergewaltigungen berichtet wurde, waren die Täter nicht selten angesehene Mitglieder ihrer Gemeinde – manchmal so angesehen, dass die Geschädigten es nicht wagten, darüber zu sprechen, weil die Scham zu groß war und sie dachten, ihnen würde sowieso niemand glauben.

 

 

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Realität des Bösen in den eigenen vier Gemeindewänden so gern ausgeblendet wird?

 

Ich glaube, dass der Wunsch nach einem sicheren Ort der Geborgenheit in jedem von uns tief verankert ist. Es lebt sich leichter, wenn man glaubt, dass die christliche Gemeinde ein guter Ort ist, Motto: „Drinnen sind die Heiligen – draußen ist die böse Welt!“ Das macht vieles einfacher und sorgt für ein aufgeräumtes Weltbild. Doch leider ist das ein Trugbild! Alles, was es draußen an Schmutz und Verwüstung gibt, findet sich auch drinnen wieder – nur nicht ganz so offensichtlich. Aber wer will das schon immer so genau wissen?

 

 

Gibt es so etwas wie unmissverständliche Anzeichen, die auf Gewalt und Missbrauch hinweisen?

 

Das sicherste Zeichen ist natürlich immer eine Aussage, während jedes Schweigen den Tätern in die Karten spielt. Gewalt und Missbrauch erkennen wir daher oft nur, wenn wir genau hinhören, wenn wir nachfragen und bereit sind, das zu glauben, was keiner wahrhaben will. Da sich Betroffene oft unglaublich schämen und dazu noch Angst vor den Konsequenzen einer Aussage haben, bleiben die meisten Taten jedoch im Verborgenen.

 

 

Wie können Eltern ihre Kinder schützen?

 

Zunächst einmal müssen Kinder vor potenziell missbrauchenden Angehörigen geschützt werden. Wieso sage ich das? Weil Missbrauch meist im vertrauten Umfeld geschieht, wo die Täter am wenigsten zu befürchten haben. Grundsätzlich sind daher diejenigen Kinder am besten geschützt, die sich liebevollen Menschen anvertrauen können. Es ist sehr wichtig, Kindern früh zu vermitteln, dass sie sich wehren und reden dürfen und dass niemand das Recht hat, übergriffig zu werden.

 

 

 Illustrationsfoto: nixki | Shutterstock.com

Illustrationsfoto: nixki | Shutterstock.com

 

Schaut man sich den ein oder anderen Missbrauchsfall einmal genauer an, liegt der Verdacht nahe, dass konservative Gemeinschaften eine höhere Anziehungskraft auf Täter ausüben als eher offene Gemeinden. Stimmt das?

 

In sich geschlossene Familien, Gruppen und Gemeinden sind nicht so durchsichtig und können daher leichter Dinge verbergen. Wenn es nur wenig Kontakte nach außen gibt, fehlt der Austausch mit anderen, und so merken die Betroffenen unter Umständen gar nicht, dass sie in einem missbräuchlichen System sind.

Wenn Kinder im familiären Umfeld sexuell missbraucht werden, glauben sie häufig bis ins Erwachsenenalter hinein, dass sie selbst dran schuld sind, dass sie minderwertig sind, oder dass sie es verdient hätten. Das große Erwachen kommt erst beim Austausch mit Vertrauenspersonen und mit der Korrektur dieser falschen Annahmen.

Täter könnten jahrelang neben uns im Gottesdienst sitzen – ohne dass wir etwas davon merken!

Doch Täter finden sich nicht nur in engen Gemeinschaften, sie nutzen auch gerne offene Kreise. Dort spielen sie sich schon mal als charismatische Leiter auf und manipulieren die, die zu ihnen aufschauen. Und dann gibt es Täter, die ein Doppelleben führen und nach außen völlig normal und sympathisch wirken. Sie könnten jahrelang neben uns im Gottesdienst sitzen – ohne dass wir etwas davon merken!

 

Ich hatte schon mit verschiedenen Tätern zu tun, und daher weiß ich: Täter ist nicht gleich Täter. Auch organisierte rituelle Gewalt kommt in christlichen Kreisen leider viel häufiger vor, als man sich vorstellen möchte. Ich glaube, dass es für Nicht-Christen leichter ist, eine Täterschaft zuzugeben und Hilfe zu suchen, als für gläubige Christen. Hier spielt Dissoziation, also die innere Abspaltung von der Tat, oft eine tragende Rolle, denn Dissoziation wird durch unlösbare Konflikte aufrechterhalten. Der Konflikt, gleichzeitig Christ und Täter zu sein, ist so groß, dass die eigene Täterschaft nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Sie kann ein richtiges Eigenleben entwickeln. Es kommt dann zu Leugnung bis hin zu einer echten Unwissenheit über eigene Taten.

 

 

Wie schaffen Sie es, Menschen, die anderen so Fürchterliches angetan haben, dennoch professionell zu begegnen?

 

Grundsätzlich gehe ich offen auf Täter zu. Ich halte mir vor Augen, dass auch sie von Gott geliebte Menschen sind und bleiben. Ganz wichtig ist, dass man die Taten von den Tätern getrennt betrachtet, ohne etwas zu entschuldigen. In der Regel ist es hilfreich zu erforschen, wie es zu den Taten kommen konnte. Manchmal liegen eigene Traumata zugrunde, und spirituelle Bindungen kann man bei Täterschaft immer vermuten.

Helfen kann man Tätern aber nur, wenn sie das volle Ausmaß ihrer Taten realisieren, Hilfe suchen und ehrlich Buße tun. Das beliebte Gebet „Herr, vergib mir alle meine Sünden – auch die, die ich nicht weiß“, ist Blödsinn vor dem Herrn! Buße setzt voraus, dass wir einsichtig sind, und was ich nicht weiß oder nicht wissen will, bringt mich auch nicht auf die Knie.

Ganz wichtig: Aktive Täter haben in Gemeinden nichts zu suchen! Und auch reumütige Täter sollten immer nur außerhalb der Gemeinschaft betreut werden.

 

 

Und auf welche Weise kann man Opfern zur Seite stehen?

 

Wie mit ihnen umzugehen ist, sollten Betroffene stets selbst entscheiden. Missbrauch ist eine Grenzverletzung, darum ist es besonders wichtig, die Grenzen der Betroffenen nicht erneut zu überschreiten. Die meisten brauchen Zeit, Verständnis, Anerkennung ihres Leids und Rückendeckung, vor allem bei der Anzeige von Straftaten.

Das Leid der Opfer darf Helfern nie lästig werden! Sie sind aufgerufen, es gemeinsam zu tragen und damit umzugehen.

Darüber hinaus ist es noch wichtig zu verstehen, dass manche Folgen von Missbrauch dauerhaft sind: Eine durch Vergewaltigung entstandene Schwangerschaft verschwindet ja nicht dadurch, dass dem Vergewaltiger Vergebung zugesprochen wird. Starke Gefühle sind nie ein Zeichen mangelnder Vergebungsbereitschaft, sondern ein Ausdruck des Leides unserer Seele. Und dieses Leid darf Helfern nicht lästig werden! Sie sind aufgerufen, es gemeinsam zu tragen und damit umzugehen. Therapeutisch können wir sicher manches Leid verringern, aber wir müssen auch verstehen, dass es nicht wie vorher werden kann. Missbrauch verändert ein Leben dauerhaft.

 

 

Und was kann man als Einzelner tun, wenn man Gewalt oder Missbrauch in seinem Umfeld wahrnimmt?

 

Fragen Sie sich einfach: „Was würde Jesus tun?“ Nur ganz selten lässt sich Missbrauch abstellen, darum ist eine klare Position wichtig. Jesus ist uns auch hier ein Vorbild, denn er war kompromisslos wenn es darum ging, Missstände aufzudecken.
Betroffene von Gewalt und Missbrauch müssen geschützt werden und brauchen starke Verbündete, die zu ihnen halten und niemals gegen ihren Willen handeln. Gerade wenn Kinder betroffen sind, steht der Schutz vor weiteren Übergriffen an erster Stelle. Dafür braucht man manchmal kreative Ideen, um die Gesamtsituation nicht zu verschärfen.

Es gibt unterschiedliche Hilfsangebote, allerdings sind nicht alle Angebote immer für jeden geeignet oder gar seriös. Manchmal ist es erforderlich, mehrere Stellen anzufragen und auszutesten. Betroffene können nach Traumahilfe-Einrichtungen, niedergelassenen Therapeuten, Kliniken, gemeinnützigen Organisationen, Beratungsstellen, Jugendämtern und Selbsthilfegruppen suchen.

 

 

Kommen wir zum Schluss noch einmal kurz auf eine andere Art des Übergriffs in christlichen Kreisen zu sprechen, die viel subtiler daherkommt, aber auch äußerst zerstörerisch ist: dem geistlichen Missbrauch. Wie kann Gemeinde hier vorbeugen?

 

Ich möchte an dieser Stelle drei Empfehlungen aussprechen:

Erstens: Niemand in der Gemeinde sollte eine unantastbare Stellung haben! Ja, es gibt unterschiedliche Gaben, Aufgaben und Erfahrungen. Aber es muss jederzeit klar sein, dass Jesus „das Haupt der Gemeinde“ ist – und nicht ein Pastor oder Leitungsmitglied! Daher ist die Gefahr eines ungesunden Machtausbaus etwas verringert, wenn Leitungspersonen wie Älteste und Pastoren in regelmäßigen Abständen wechseln.

Zweitens: Jedes Gemeindemitglied sollte darin bestärkt werden, alles kritisch zu hinterfragen. Wenn Mitglieder nicht in der Lage sind, eine Predigt anhand biblischer Aussagen zu prüfen, bieten sie sich als Opfer von Manipulation und geistlichem Missbrauch geradezu an. Die Gefahr von Gruppendenken ist in Gemeinden ein kritischer Faktor, darum ist der Austausch mit Andersdenkenden wichtig.

Und drittens: Wir müssen die übernatürliche Welt ernstnehmen, dunkle Verführungen erkennen und in geistlicher Weise reagieren können. Dazu ist die persönliche Beziehung zu Jesus und das vollmächtige Gebet unerlässlich.

 

 

Was raten Sie Betroffenen von geistlichem Missbrauch als ersten Schritt, wenn sie aus einem kranken Gemeindesystem aussteigen wollen?

 

Oft ist es hilfreich, die Dinge mit etwas Abstand zu betrachten. Der Ausstieg ist für viele am Anfang undenkbar und mit Ängsten behaftet, hier hilft manchmal eine kleine Auszeit.

Darüber hinaus ist es wichtig, mit verschiedenen unbeteiligten Menschen darüber zu sprechen und sich deren Meinung anzuhören. Wer darüber reden kann, hat gute Chancen, Hilfe zu finden. Einzelne verändern in der Regel keine Systeme zum Guten, aber sie können ihren Horizont erweitern und sich von Gott neue Wege zeigen lassen.

Mich hat das Verlassen missbrauchender Gemeinden im Glauben ordentlich nach vorne gebracht, ja es war fast schon so etwas wie eine Freisetzung. Und auch wenn ich zunächst viel vermisst habe – mir wurde umso mehr geschenkt.

 

 

Frau Splettstößer-Pache, vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Die Fragen stellte Inge Frantzen.

 

DANIELA SPLETTSTÖSSER-PACHE

Jg. 1971, Psychologin (B.Sc.), arbeitet als Seelsorgerin und Therapeutin (HPG) in ihrer Privatpraxis sowie als freie Referentin. Zum Thema Gewalt und Missbrauch in christlichen Kreisen hat sie das Buch „Das Unfassbare begreifen“ (Asaph- & Fontis-Verlag) veröffentlicht.

 

Hilfe für Betroffene: www.seelsorge-therapie.de

 

 

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