Was wir anderen von uns zeigen – selbst in der Partnerschaft –, ist nur ein Bruchteil der Person, die wir sind. Denn was wir sagen und tun, deckt sich oft nicht mit dem, was wir denken und fühlen.

Ein Beispiel: Beate und Thomas sind zusammen auf einer Party. Als kontaktfreudige Person genießt Beate den Abend, unterhält sich bestens und hat eine Menge Spaß. Thomas ist eher ruhig und läuft ein bisschen neben Beate her. Auf dem Heimweg geraten die beiden in einen Streit, ausgelöst durch eine Lappalie. Beate hat ihren Schal vergessen und muss noch einmal zurückgehen, um ihn zu holen. „Kannst du nicht mal besser aufpassen? Warum muss ich eigentlich immer auf dich warten?“, fährt Thomas sie an, und schon gibt ein böses Wort das andere. „Es ist doch immer dasselbe: Jedes Mal musst du mir den schönen Abend verderben!“, kontert Beate. Es folgt tagelange Missstimmung zwischen den beiden.

 

Unter der Oberfläche

Solange das Verhalten des Partners als liebevoll und zugewandt erlebt wird, ist alles gut. Häufig passiert es aber in engen Beziehungen, dass Reaktionen auch unangenehm, unangemessen oder sogar verletzend ausfallen. Zum Beispiel, wenn sich ein Partner zurückzieht, anklagend oder gereizt reagiert. Das führt oft zu Missverständnissen und Konflikten, die unlösbar scheinen, solange ihre Ursache unsichtbar bleibt und damit nicht greifbar ist.

 

In der Psychologie wird diese Realität, angelehnt an Sigmund Freuds psychodynamische Theorie des Unbewussten, gerne mit dem Bild eines Eisbergs dargestellt: Eisberge sind so beschaffen, dass sie zum überwiegenden Teil, nämlich bis zu 90 Prozent, unter der Wasseroberfläche liegen. Sichtbar ist nur ihre Spitze. Übertragen auf die Beziehung zwischen zwei Menschen bedeutet das: Sichtbar – sprich: vom anderen wahrnehmbar – ist nur das Verhalten, das sich zeigt. Worte, Körpersprache, Taten – das sind die Elemente, die dem anderen zugänglich sind.

 

Anders ist es mit den tieferen Schichten, die so viel mehr ausmachen: Da sind Angst, Schuldgefühle, Eifersucht, Traurigkeit, Unzulänglichkeit und Überforderung. Hinzu kommen tiefe Prägungen, Einstellungen, Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte. Und je weiter es in die tieferliegenden Schichten des Eisbergs geht, umso weniger sind uns diese Anteile bewusst  – obwohl sie alle zu dem gezeigten Verhalten beitragen, weil sie elementarer Teil der ganzen Persönlichkeit sind.

 

Wer bist du?

Wenn Paare einander Einblick in diese verborgenen Bereiche ihrer Persönlichkeit gewähren, kann Verständnis und sogar tiefere Zuneigung wachsen. Dazu muss aber erst einmal jeder für sich bereit sein, diese tieferliegenden Schichten anzuerkennen und Gefühle, die zu einem bestimmten Verhalten führen, bewusst wahrzunehmen. Im verständnisvollen Dialog können sich Partner dann Akzeptanz und Mitgefühl entgegenbringen und damit sogar zur gegenseitigen Heilung beitragen.

 

Was hätten Beate und Thomas in ihrer Situation also anders machen können? Beate hätte zum Beispiel nachfragen können, warum Thomas so patzig reagiert: „Ich spüre, dass dich etwas unglücklich macht. Willst du mit mir darüber reden? Es interessiert mich, weshalb du dich nicht gut fühlst nach diesem Abend.“ So könnte es sein, dass Thomas sehr müde war und deshalb ungeduldig mit seiner vergesslichen Frau wurde. Oder dass er eifersüchtig war, weil sie so intensiv mit anderen, aber wenig mit ihm gesprochen hat. Oder hat Thomas sich, wie vielleicht schon oft zuvor in seinem Leben, als fünftes Rad am Wagen gefühlt? Er bewundert Beate für ihre offene Art, beneidet sie aber zugleich dafür, dass sie so leicht mit anderen in Kontakt kommt. „Und dann baut sich das in mir den ganzen Abend lang auf und ich fühle mich schlecht, minderwertig und unwichtig.“ So könnte er zum Beispiel antworten.

Unterstelle dem anderen keine bösen Absichten. Geh grundsätzlich davon aus, dass es Gründe für sein Verhalten gibt.

 

 

Wenn Paare sich bewusst machen, dass in ihrer Beziehung von beiden Seiten eine ganze Menge Unbewusstes mitschwingt, kann das ein erster Schritt sein, um angespannte Situationen besser einzuordnen und Konflikte konstruktiv zu lösen.

Doch das Drüber-Reden ist nicht immer einfach. Folgende Strategien können Paaren helfen, den ganzen Eisberg in den Blick zu nehmen und damit ihre Liebe zu heilen:

 

 

1. Stopp sagen, wenn es brenzlig wird

 

Konflikte brechen oft durch entfesselte Emotionen auf. Einer macht seinem Ärger Luft und es folgen heftige Reaktionen. Sehr wahrscheinlich stecken da unter der Oberfläche ganz andere Ursachen. Doch denen kommt man nicht im Zorn auf den Grund, sondern im ruhigen, liebevollen und wertschätzenden Gespräch.

Das aber ist in wütender oder beleidigter Verfassung nicht möglich. Deshalb lohnt es sich, die Gemüter erst einmal abzukühlen, bevor man sich in gefassterer Stimmung an die Aufarbeitung macht. Hilfreich kann eine Abmachung sein: „Jetzt nicht. Jetzt beruhigen wir uns erst mal. Aber nachher oder morgen reden wir darüber!“ Ganz wichtig: Es dann aber auch zu tun! Denn wenn die Konflikte ignoriert werden, staut sich Unzufriedenheit an, die auf Dauer schädlich ist und für die Beziehung zur Gefahr wird.

 

 

2. Keine bösen Absichten unterstellen

 

„Im Zweifel für den Angeklagten“ – diesen bekannten Rechtsgrundsatz auf die Paarbeziehung zu übertragen, könnte bedeuten: „Unterstelle dem anderen keine bösen Absichten. Gehe grundsätzlich davon aus, dass es Gründe für sein Verhalten gibt und dass er im Moment einfach nicht anders konnte, sonst hätte er es besser gemacht.“

Eine solche wohlwollende Grundhaltung öffnet das Herz dafür, den anderen besser verstehen zu wollen, ihn ganzheitlich zu lieben und anzunehmen.

 

 

3. Über Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche reden

 

Je besser die Partner einander kennen, umso leichter fällt es ihnen, Reaktionen einzuordnen und Verständnis für den anderen zu haben. Zwiegespräche sind dafür bestens geeignet. Idealerweise hat dabei jeder eine gewisse Redezeit, während das Gegenüber nur Zuhörer ist, ohne zu kommentieren. Denn Kommentare enthalten fast immer Wertungen. Hier geht es aber nicht darum, die Gefühle des anderen zu bewerten, sondern sie wahrzunehmen, anzuerkennen und zu würdigen.

Paare, die regelmäßig solche Gefühls-Dialoge führen, sind deutlich besser gewappnet, Konflikte konstruktiv zu bewältigen. Und sie empfinden sich oft tief verbunden und emotional zugewandt.

 

 

4. Die Herkunftsfamilie anerkennen

 

Die Familie, aus der wir kommen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Leben. Prägungen lassen sich nicht leicht abschütteln, sondern beeinflussen Denken und Fühlen, Einstellungen und Verhalten jedes Menschen. Um diesen Teil des Eisbergs zu würdigen, können zum Beispiel folgende Fragen helfen:

 

– Welche Gewohnheiten und Rituale gab es bei euch?

– Wie hat man bei euch gestritten?

– Wie ging es dir in deiner Geschwisterposition?

– Gibt es wichtige Werte, die du aus deiner Familie übernommen hast?

– Welche Einstellung zum Umgang mit Geld hatten deine Eltern?

– Wie wurde über Sexualität gesprochen? Wie aufgeklärt?

– u. v. m.

 

 

5. Neugierig bleiben

 

Der letzte Tipp scheint banal, ist es aber nicht: Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass der andere so tickt wie wir. Automatisch projizieren wir unsere Vorstellungen, unsere Gewohnheiten, unser „Normal“ auf den anderen und staunen oder erschrecken, wenn er so anders reagiert, als wir es erwarten. Doch selbst wenn bei zwei Menschen die Spitze ihrer Eisberge ähnlich aussieht (z. B. beide reagieren schnell gekränkt oder wütend), können die Ursachen dafür vollkommen andere sein.

 

Jeder von uns bringt seine individuelle Geschichte und Persönlichkeit mit in die Beziehung. Es ist wichtig, neugierig zu bleiben. Denn seine Frau oder seinen Mann in der Tiefe kennen und lieben zu lernen, ist und bleibt eine faszinierende Lebensaufgabe.

Susanne & Marcus Mockler

sind seit über 30 Jahren verheiratet und Autoren des Ehe-Ratgebers „Das Emma-Prinzip“ (adeo Verlag). Sie halten Vorträge und Seminare zum Thema „Ehe und Familie“. Susanne ist systemische Paartherapeutin mit eigener Praxis und hat einen Bachelor-Abschluss in Psychologie. Marcus ist Journalist und Koautor verschiedener Bestseller. Die beiden leben mit ihren Kindern auf der Schwäbischen Alb.

 

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www.susanne-mockler.de

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