MINDO: Herr Westerheide, ein heilsamer Glaube, der gute Impulse in unser Leben bringt – wie sieht der aus?

 

RUDOLF WESTERHEIDE: Das Heilsame am Glauben ergibt sich vor allem daraus, dass ich mich nicht mehr dauernd mit mir und meinem Glauben, mit meinen Verletzungen und Begrenzungen befassen muss. Glaube heißt ja „aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens“, wie es im Hebräerbrief zu Beginn von Kapitel 12 heißt. Früher sprachen wir vom Heiland, vom „lieben Heiland“ sogar. Von ihm kommt Heil und Heilung in unser Leben.

 

 

Ist der Wunsch, dass Glaube vor allem auch uns Menschen guttun muss, dem heutigen Zeitgeist geschuldet – oder ist das biblische Wahrheit?

 

WESTERHEIDE: Da fällt mir spontan das schöne alte Weihnachtslied „Fröhlich soll mein Herze springen“ ein. Dessen Text übertrifft jeden modernen Worship-Song – sowohl an Schönheit als auch an Kitsch – um Welten. Gleich in der zweiten Strophe steht „Gott wird Mensch, dir Mensch zugute“, das kann doch nicht falsch sein, wenn Paul Gerhardt höchstselbst das dichtet, oder? Aber auch hier wieder: Es geht eigentlich nicht um den Glauben, sondern um den Gott, an den wir glauben. Allerdings wusste Gerhardt auch, dass guttun nicht damit gleichgesetzt werden darf, dass es sich immer gut anfühlt. Ob sich etwas gut anfühlt, ist in der Tat ein postmodernes Kriterium der Wahrheitsfindung.

Zu einem erwachsenen, starken Glauben gehören auch die Erkenntnis und Erfahrung, dass es gut sein kann, auch wenn es lange Zeit mal nicht schön ist.

Welche ungesunden, ja vielleicht sogar krankmachenden Überzeugungen und Gottesbilder, die Menschen mit sich herumtragen, sind Ihrer Beobachtung nach am weitesten verbreitet?

 

WESTERHEIDE: Natürlich gibt es immer noch und immer wieder den Irrglauben von dem Gott, der nie mit uns zufrieden ist und uns nichts Schönes gönnt. Dazu ist bereits alles gesagt, geschrieben und gesungen. In dem Umfeld, das ich überblicke, begegnet mir aber häufiger die irrige Erwartung, man müsste sich als Christ immer gut fühlen. Das funktioniert, so lange alles glatt läuft. Wenn es dann aber mal eng wird – und das über lange Zeit – steht plötzlich der Glaube in Frage. Das aber setzt uns dann noch mehr unter Druck und macht wirklich krank. Falsche Glaubenssätze verlieren ihre Macht oft nur, indem sich Gott einmal scheinbar von uns zurückzieht und erst langsam aus dem Nebel der Ungewissheit heraus in vorher nicht gekannter Klarheit wieder auftaucht. „Es liegt Kraft in dem Warten auf den Herrn“ – das singt sich leichter als es sich lernt und lebt. Aber es lohnt sich, das Warten nicht aufzugeben. „Schön und gut“, sagen wir gern in einem Atemzug. Zu einem erwachsenen, starken Glauben gehören aber auch die Erkenntnis und die Erfahrung, dass es gut sein kann, auch wenn es lange Zeit mal nicht schön ist.

 

 

Nun werfen ja manche Kritiker insbesondere dem christlichen Glauben vor, dass er nicht heilsam sei, sondern im Gegenteil: dass er Menschen unfrei mache und manchmal sogar krank. Was entgegnen Sie darauf?

 

WESTERHEIDE: Dass Missbrauch im Namen des christlichen Glaubens Menschen unfrei gemacht hat, ist ja leider nicht zu leugnen. Wenn ich unter Kritikern aber solche verstehe, die nicht aus persönlicher Betroffenheit reden, sondern die akademische Diskussion suchen, würde ich beim Begriff der Freiheit ansetzen. Freiheit ist nach meinem Verständnis keine abstrakte Bindungslosigkeit, sondern ein Eintauchen in das Element, für das das jeweilige Individuum geschaffen ist. „Frei wie ein Vogel im Wind“ sagen wir. Will sagen: Der Vogel findet seine Freiheit nur, indem er weder ins Meer springt noch der Erde verhaftet bleibt, sondern indem er sich in die Lüfte erhebt und dort getragen wird. Für mich als Christ ist die Sphäre Gottes das Element, für das ich als Mensch geschaffen bin. In seiner Nähe, getragen vom Wind des Heiligen Geistes, bin ich frei. Frei zum Glauben, zur Liebe, zur Hoffnung und frei von meiner krankmachenden Ichbezogenheit, meinem Geltungsdrang und meinem Selbstmitleid.

Ich habe schon Menschen geraten, sich von ihrer Gemeinde oder Gemeinschaft zu trennen und erst dann wieder zu beten, wenn es sie dazu drängt.

Wenn nun aber jemand bemerkt, dass sein Glaube ihn in der Tat mehr verletzt, als dass er ihn heil macht – was raten Sie diesem Menschen?

 

WESTERHEIDE: Wenn ein geistlich verletzter Mensch das Gespräch mit mir sucht, ist das ein enormer Vertrauensbeweis und für ihn zugleich ja auch ein Wagnis. Dann halte ich mich mit Ratschlägen zunächst zurück. Da heißt es erst mal zuhören, verstehen und gemeinsam schweigen. Aus dem Hören und Schweigen kristallisieren sich dann manchmal verquere Gottesbilder, erlittene Verletzungen oder auch Zwangsgedanken heraus, die zu erkennen und zu besprechen einen Weg in die Freiheit öffnet. Dieser kann allerdings sehr lang sein. Martin Luther war so ein Mensch, den der Glaube lange Zeit mehr verletzt als heil gemacht hat. Nachdem er sich darin endlich seinem Beichtvater Johann von Staupitz geöffnet hatte, dauerte es weitere sechs Jahre, bis sich ihm das Tor in die Freiheit öffnete. Ich habe schon Menschen geraten, sich von ihrer Gemeinde oder Gemeinschaft zu trennen und erst dann wieder zu beten, wenn es sie dazu drängt. Aus einer neuen Begegnung mit Gott kann neuer, heilsamer Glaube wachsen.

 

 

Was kann ich selbst dazu tun, dass mein Glaube wahrhaftiger und im wahrsten Sinne des Wortes „Heil bringend“ für mich und andere wird?

 

WESTERHEIDE: Wahrhaftig bedeutet ja „in der Wahrheit verwurzelt“. Wahrheit ist aber keine Lehre oder eine Lebenseinstellung, sondern eine Person: Jesus Christus. Die Wahrheit erkennen wir, indem wir ihn immer besser kennenlernen und uns von ihm prägen lassen. Das ist nicht so kompliziert, wie es oft gemacht wird. Bibel lesen und beten, alleine und in Gemeinschaft, sind die Schlüssel. Bücher, Konferenzen und Lobpreiszeiten, die uns daran vorbei zum Herzen Gottes führen wollen, werden nicht halten können, was wir uns davon versprechen. Heil bringend für andere ist Gott selbst, der im Heiligen Geist in uns wohnt und sich durch uns mitteilt. Entscheidend ist, dass wir ihm das zutrauen und uns auf andere Menschen einlassen, innerhalb und vor allem außerhalb der Gemeinde. Alles andere macht Gott. Wirklich! Mit all unseren missionarischen Strategien machen wir es oft nur komplizierter als es ist.

 

 

Und zuletzt, wenn Sie uns das verraten mögen: In welchem Bereich Ihres Lebens hat der Glaube Sie ganz persönlich heiler gemacht?

 

WESTERHEIDE: In den letzten Jahren habe ich lernen müssen und dürfen, mich von den Bildern zu lösen, die andere von mir haben. Ich kann mich nicht allen erklären und nicht alle Missverständnisse ausräumen. Ich muss nicht von allen geliebt werden, kann aber allen vergeben. Gerade lerne ich, das Schöne im Leben zu genießen, während ich darauf warte, dass Gott meine äußeren Probleme löst und mich innerlich heil macht.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

Rudolf Westerheide

Jahrgang 1960, ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder. Er hat als Studienassistent, Pastor, Referent der „Deutschen Evangelischen Allianz“ und zuletzt 14 Jahre als Leiter des Deutschen Jugendverbandes „Entschieden für Christus“ gearbeitet. Westerheide ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Zeitschriftenartikel.

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