„Was glaubst du, wo du hier bist?“, fragt mich meine türkische Bekannte. Ich würde gern antworten: „Auf einem anderen Planeten“, aber das wäre zu billig. Ich frage mich eher, auf welchem Planeten ich bisher gelebt habe?

 

Es ist Dezember 2015, mitten in der sogenannten Flüchtlingskrise. Wir befinden uns am Rande eines hübschen kleinen Städtchens an der wunderschönen türkischen Ägäis-Küste, einer „der reichsten Städte der Türkei“, erklärt mir meine Bekannte. Um uns herum die Rohbauten von nie fertig gebauten Ferienhäusern aus den Neunzigern, in den Tür- und Fensteröffnungen hängen Plastikplanen. Dazwischen: Unglaublich viel Müll. Der Gestank von Urin und verbranntem Plastik und Angst. Und die Ausgestoßenen dieser Welt, denen man es ansieht, dass sie schon Wochen, manche von ihnen Monate, unterwegs sind. Kinder in zerlumpten Kleidern, barfuß, in leuchtend-orangen Schwimmwesten. Später erfahre ich: Viele der Westen, die hier an die Flüchtenden verkauft werden, sind Fälschungen – mit Papier oder Schaumstoff gefüllt, sind sie eher Todesfallen als Schwimmhilfen. Auf dieser Landzunge, umspült von der blauen Ägäis, endet Asien. Von hier starten jede Nacht dutzende überladende Boote – dem Hoffnungsziel Europa entgegen, das in den nächsten Jahren immer mehr zur Festung wird.

 

Wer im Wohlstand aufwächst, kennt den Hunger nicht. So blieben mir auch der Hunger und der Durst, von denen Jesus in den Seligpreisungen (Matthäus 5,6) spricht, lange fremd. Mein Leben war wohlgeordnet und behütet, Polizisten waren Freunde und Helfer, ich blieb von größeren Dramen verschont und für Notfälle gab es immer jemanden, der zuständig war.

Wer im Wohlstand aufwächst, kennt den Hunger nicht. So blieben mir auch der Hunger und der Durst, von denen Jesus in den Seligpreisungen spricht, lange fremd.

Natürlich war es in meiner Welt auch wichtig, etwas gegen die Übel dieser Welt zu tun. Aber sie erschütterten mich nicht existenziell. Christen wissen: Wir leben in einer „gefallenen Schöpfung“, unerlöste Menschen tun böse Dinge – wer eine saubere Theologie hat, den überrascht das nicht. Na klar, wir tun, was wir können, um zu helfen! Und irgendwann kommt Jesus wieder und bringt alles ins Lot … Ich kannte weder Hunger noch Durst. Meine Welt war in Ordnung. Und Jesus will doch auch, dass ich inneren Frieden habe inmitten einer (anderswo) chaotischen Welt, oder?

 

Keine Worte mehr

Und dann stehe ich da am Strand und habe keine Worte. Nach der Überfahrt auf die griechische Insel  – für eine Person 25 Euro auf einer komfortablen Fähre; für eine Person ohne EU-Ausweis: sämtliche Lebensersparnisse in einem lebensgefährlichen Schlauchboot – lerne ich diesen Planeten immer besser kennen. Jede Nacht kommen hier hunderte oder tausende Menschen an, die vor Krieg, Not, Verfolgung auf der Flucht sind. Niemand der vermeintlich „Zuständigen“ ist vor Ort; ein bunt gewürfelter Haufen freiwilliger Helfer versorgt die Neuankömmlinge mit dem Nötigsten. In den folgenden Monaten und Jahren erlebe ich eine Politik, die formal Menschenrechte und „europäische Werte“ bekennt und faktisch alles dafür tut, dass Menschen diese Rechte nicht beanspruchen, dass sie keinen Anteil an diesen Werten bekommen.

 

Bei mir wächst erst das Unverständnis. Und dann die Wut. Und dann – Hunger und Durst. Ich verstehe: Es geht hier nicht nur um Mildtätigkeit und Barmherzigkeit, sondern um Recht und Gerechtigkeit. Ich lese in Gottes Wort: Gottes Herz schlägt für Gerechtigkeit. Und zwar nicht ausschließlich für „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben“ (Römer 1,17), damit ich gerechtfertigt vor Gott stehe. Sondern von der Tora über die Sprüche und Psalmen, durch alle Propheten bis hin zu Johannes dem Täufer und bis in den Jakobusbrief: Gerechtigkeit für jeden Menschen – ganz besonders für diejenigen, die leicht um ihr Recht geprellt werden: die Witwen und Waisen, die Fremden und Ausgestoßenen, die Armen und Unterdrückten. Kein Nebenthema, sondern ein Herzensthema Gottes. Darum sagt auch Jesus denen, „die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“ nicht: „Denkt an den Himmel und lasst euch nicht von solchen Nebensächlichkeiten ablenken“, sondern: „Selig seid ihr.“

 

Bleib dran!

Und das macht mir Mut. In all der Not, der ich in den letzten Jahren seit dieser ersten Konfrontation am Strand erlaubt habe, mein Herz zu brechen, macht mir das Mut. Neben manchen satten Christen, wie ich selber einer war (und Gott sei Dank manchen, die sich lange vor mir haben bewegen lassen), habe ich viele Freunde kennengelernt, die sich aufreiben für Menschen in Not und wirklich am verhungern und verdursten sind angesichts der Ungerechtigkeit dieser Welt, die den nicht kennen, der sie selig preist. Ich habe gesehen, wie leicht es ist, hart zu werden und bitter und voller Hass auf das „System“ – oder sich resigniert zurückzuziehen, „weil es ja doch nichts bringt“. Und dann wünsche ich ihnen, sie könnten Jesus sehen und hören, wie er zu ihnen sagt: „Bleib dran! Dein Hunger ist mein Hunger und dein Durst ist mein Durst. Deine Last liegt auf meinen Schultern. Vertrau mir! Ich komme bald und richte die vollkommene Gerechtigkeit auf. Bis dahin mach weiter – du wirst satt werden!“

Alexander Hirsch

ist Pastor und Leiter einer Freikirche. Mit seiner Frau und drei Söhnen lebt er in Marburg. Er ist Vorsitzender des Vereins „Offene Arme e. V. – Hoffnung für Chios“, der auf der griechischen Insel Chios Menschen auf der Flucht mit dem Nötigsten versorgt. Weitere Infos unter www.offenearme.de und www.cesrt.org

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