Sommer 2016: Nach zwei Jahrzehnten im Rollstuhl, nach Depressionen und endlosen Phantomschmerzen, beendet Markus Schenderlein an einem Julinachmittag sein Leben – und lässt Frau, Tochter, Familie und Freunde sprachlos zurück. Vor allem die Monate danach sind für Nicole Schenderlein und ihre kleine Tochter ein reiner Überlebenskampf. Doch irgendwann finden sie den Weg zurück in einen halbwegs normalen Alltag. Was ihnen als Suizid-Hinterbliebenen wirklich geholfen hat und was nicht, beschreibt sie in nachfolgendem Beitrag.

 

 

Seien wir ehrlich: Wir reden nicht gerne über den Tod. Dafür leben wir viel zu gerne – zumindest die meisten von uns. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass wir alle irgendwann sterben müssen. Das heißt auch: Jeder Mensch wird irgendwann in seinem Leben einen oder mehrere geliebte Menschen verlieren. In der Regel geschieht das, weil der Verstorbene bereits in einem hohen Alter war, manchmal aber auch, weil eine unheilbare Krankheit das Leben gefühlt viel zu früh beendet. In beiden Fällen jedoch haben die Hinterbliebenen das Glück (und auch die Bürde), sich verabschieden zu können. Bei einem Verkehrsunfall ist das anders. „Zack – und weg!“, hat es ein betroffener Hinterbliebener einmal treffend ausgedrückt. Eben noch war der geliebte Mensch da – und dann ist er plötzlich verschwunden, kein Teil des Lebens mehr, tot, nicht mehr erreichbar.

 

„Zack – und weg!“ – das gilt auch für eine Todesart, über die kaum jemand spricht, und das, obwohl sie mehr Opfer fordert als der Straßenverkehr: Jedes Jahr sterben dreimal so viele Menschen durch Suizid wie durch Verkehrsunfälle. Trotzdem gehört Selbsttötung in unserer Gesellschaft immer noch zu den Tabuthemen. Auch, weil viele der Angehörigen schweigen; schweigen, weil sie es nicht fassen können und es ihnen buchstäblich die Sprache verschlägt. Ich bin eine von ihnen – aber ich bleibe nicht still!

 

Weiterleben – bloß wie?

Jeder Suizid hinterlässt Menschen – Partner, Kinder, Eltern und auch Freunde –, die weiterleben müssen und nicht wirklich wissen wie. Und auch, wenn jeder Suizid individuell ist und jeder Mensch auf seine Weise trauert, möchte ich doch meine Erfahrungen weitergeben. Damit wir einander besser helfen können – beim Überleben. Und damit man in Zukunft bei Google auch ein Rezept für das Leben nach dem Sterben findet.

Wie also können Familie, können Freunde und Bekannte den Hinterbliebenen eines Suizids zur Seite stehen? Was sollten sie unbedingt tun – und was auf keinen Fall? Hier meine persönlichen Vorschläge.

 

1. Realistische Angebote machen

Wer unseren Schmerz mitfühlt, möchte entweder ganz schnell wegrennen oder ganz schnell helfen. Damit der Schmerz möglichst bald aufhört oder sich zumindest verringert, machen manche Menschen überstürzte Hilfsangebote. Doch vieles davon ist nicht in Ruhe durchdacht und auf lange Sicht nicht haltbar. „Ich bin immer für dich da!“, ist zum Beispiel so ein unrealistischer Klassiker. Denn das kann niemand rund um die Uhr leisten. Wir können nur dann anderen helfen, wenn wir auch gut für uns selbst sorgen, wenn wir unsere Grenzen kennen und diese auch kommunizieren. Besser ist darum ein konkretes und vor allem realistisches Hilfsangebot: „Ich bin für dich da. Heute Nacht fahre ich zwar nach Hause, aber ich nehme das Telefon mit ans Bett und morgen früh hole ich dich zum Frühstück ab.“ Auf diese Weise erleben Hinterbliebene wohltuende Verlässlichkeit und nicht erneut ein gebrochenes Versprechen. Denn letztendlich ist ein Suizid genau das: Ein geliebter Mensch hat sein Versprechen, ein Teil unseres Lebens zu bleiben, nicht gehalten.

 

2. Schmerz gemeinsam aushalten

Der Trümmerhaufen, den ein Suizid hinterlässt, kann riesig und unüberschaubar sein. Für die Hinterbliebenen ist er kaum auszuhalten – und doch müssen sie! Ihre Freunde allerdings nicht. Vielleicht kannten sie den Toten und sind damit selbst Hinterbliebene. Dann haben sie mit ihrem eigenen Verlust zu kämpfen, der ebenfalls Raum braucht. Nicht selten gehen sie dann auf Distanz zum Angehörigen. Weil sie es nicht mehr ertragen können, den eigenen Schmerz und dazu den des anderen.

 

Nicht selten gehen Freunde auf Distanz zu den Angehörigen des Suizidopfers. Tun Sie das nicht! Stellen Sie sich dem Schmerz. Holen Sie sich Unterstützung. Sagen Sie ehrlich, wenn es Ihnen zu viel wird und Sie eine Pause brauchen. Aber kommen Sie danach immer wieder zurück.

Für den Angehörigen wird es dann doppelt schwer: Nicht nur der geliebte Mensch ist gestorben, auch andere geliebte Menschen gehen auf Distanz. Tun Sie das nicht! Stellen Sie sich dem Schmerz. Holen Sie sich Unterstützung. Sagen Sie ehrlich, wenn es Ihnen zu viel wird und Sie eine Pause brauchen. Aber kommen Sie danach immer wieder zurück. Verschwinden Sie nicht einfach aus dem Leben der Hinterbliebenen! Denn genau das haben sie durch den Suizid bereits erlebt.

 

3. Selbstwirksamkeit fördern

Weil es keinen allgemeingültigen Leitfaden dafür gibt, was man nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen tun kann, gehen viele davon aus, dass Hinterbliebene genauso hilflos sind wie man selbst. Also versucht man, ihnen möglichst viel zu helfen und abzunehmen. Und ja, sie brauchen auch ein stützendes Netzwerk. Am besten eins, das auf vielen Schultern verteilt ist, damit keiner überlastet wird. Das hilft sehr, zumindest für eine gewisse Zeit.

Unterstützung sollte aber immer das Ziel beinhalten, irgendwann wieder selbstständig zu sein. Denn als Hinterbliebene eines Suizids müssen wir erleben, dass wir noch etwas können. Selbstwirksamkeit ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die uns zeigen: „Auch ohne den geliebten Menschen lebe ich. Ich kann das. Ich schaffe das.“ Das aber geschieht nicht, wenn man uns bemitleidet, in Watte packt und uns nichts mehr zutraut. Das geschieht, wenn man uns Mut macht, unser Leben wieder selbst anzupacken. Wenn wir unser Hilfsnetzwerk selbst koordinieren. Wenn wir als Experten für unser eigenes Leben geachtet werden – auch wenn manche unserer Ideen und Entscheidungen vielleicht verrückt klingen.

 

4. Verrücktheiten akzeptieren

Eine spontane Reaktion nach einer Schocknachricht wie einem Suizid ist: Auf eine Weise zu helfen wie man wünscht, dass einem auch selbst in solch einer Situation geholfen würde. Doch auch auf welche Weise wir Hilfe empfangen möchten, ist höchst individuell: Was der eine braucht, hilft dem anderen überhaupt nicht. Damit sind die Missverständnisse vorprogrammiert: Der Hinterbliebene reagiert völlig anders, als man es selbst tun würde. Oder völlig anders als bisher. Er scheint plötzlich ein ganz anderer Mensch zu sein! Und genau das ist er auch. Ein Teil von ihm ist mit dem geliebten Menschen gestorben. Sein altes Ich ist „ver-rückt“ und er muss sich erst wieder neu finden.

Doch gerade in dieser „verrückten Zeit“ brauchen Hinterbliebene Konstanten, an denen sie sich festmachen können. Sie brauchen Sie! Auch wenn Sie nicht alles nachvollziehen können und sich ärgern, weil Sie komplett anderer Meinung sind. Versuchen Sie, darin eine Chance zu sehen, in Ihrer Beziehung zu wachsen: Einander auch mit Ihren Unterschieden zu achten und sich selbst und den anderen neu kennenzulernen.

 

5. Geduld haben

Suizid-Hinterbliebene werden höchst wahrscheinlich nie wieder die Menschen werden, die sie vorher waren. Doch ihr Wesenskern bleibt. Und meistens erwächst aus all dem eine neue, spannende Persönlichkeit – wenn man ihr Zeit zum Wachsen lässt. Oft erleben sie aber nach spätestens einem Jahr, dass das Umfeld erwartet, man solle jetzt wieder zum „normalen Leben“ zurückkehren. Doch „normal“ gibt es nicht mehr, denn ein Tod ist endgültig. Es gibt keine Rückkehr und das neue Leben muss sich erst noch entwickeln.

 

Trauerprozesse brauchen Zeit. Irgendwann wird sich der Trauernde von selbst aus diesem Tal erheben und von der Bergspitze aus einen Rundumblick auf sein neues Leben wagen.

Trauerprozesse brauchen Zeit. Wenn ein Trauernder nicht zusätzlich an einer Depression erkrankt ist oder von seiner Umwelt als unfähiges Opfer in Watte gepackt wurde, wird er sich von selbst aus diesem Tal erheben und irgendwann von der Bergspitze aus einen Rundumblick auf sein neues Leben wagen. Doch wann das ist, entscheidet er ganz allein. Haben Sie deshalb mit ihm einen langen Atem bei dieser Wanderung zurück ins Leben. Drängen Sie ihn nicht. Leben lässt sich nicht erzwingen wie der Tod. Leben lebt aus sich selbst heraus.

 

 

6. Nächstenliebe leben

Im christlichen Umfeld ist das Thema „Suizid“ in der Regel noch stärker tabuisiert als in der Gesellschaft. Dass „Selbstmörder“ durch die Tat „ihr Heil verlieren“ und nicht in den Himmel kommen, war lange Zeit die offizielle Lehrmeinung der Kirche. Und auch wenn diese Meinung heute von immer weniger Christen geteilt wird, sind ihre theologischen „Ausläufer“ oft noch spürbar.

Auf diesem Hintergrund haben es christliche Angehörige oft ungleich schwerer. Denn zu dem ganzen Strudel an Gefühlen wie Trauer („Ich vermisse dich“), Wut („Du hast uns verlassen!“) und Schuld („Hätte ich es verhindern können?“), gesellen sich dann noch Zweifel: „Werde ich meinen geliebten Menschen später bei Gott wiedersehen?“

Da das jedoch niemand mit Sicherheit weiß, außer Gott selbst, gilt für diesen wie für alle anderen Glaubenszweifel vor allem der Ansatz der Nächstenliebe. Darum: Starten Sie keine theologischen Grundsatzdiskussionen! Versuchen Sie nicht mit gut gemeinten, aber trotzdem platten Glaubenssätzen wie „Du wirst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“ oder „Uns wird alles zum Besten dienen“ zu trösten. Hinterbliebene eines Suizids befinden sich in einer Lebenskrise. Da helfen keine Belehrungen und Ratschläge. Da hilft nur Liebe. Die Liebe Gottes durch Sie. Darum: Hören Sie zu, halten Sie aus, beten Sie! Seien Sie einfach da. Sie werden sehen: Es ist genug.

Nicole Schenderlein

gelernte Journalistin, war bis zum Suizid ihres Mannes psychologische Beraterin. Heute bloggt sie als wütende Witwe ganz persönlich über die großen Themen Leben und Tod, Glaube und Liebe. Und vor allem über Hoffnung. Denn die gibt sie nie auf. 

 

Mehr Über-Leben nach Suizid finden Sie auf der der Webseite von „Blattwenden e. V.“: www.blattwenden.eu

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