Wie greift Glaube eigentlich ins Leben? Wieso schaffe ich es manchmal, eine biblische Einsicht umzusetzen, und weshalb gelingt es mir so häufig nicht? – Wer sich diese Fragen ernsthaft stellt, merkt schnell, dass es hier keine simplen Antworten gibt. Weder können wir die Verantwortung einfach auf Gott abschieben, etwa mit dem Verweis, dass ja nur Gott geistliche Erneuerung bewirken kann. Noch können wir so tun, als sei alles bloß eine Frage von Willensstärke und Entschlossenheit, so als ob wir uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen könnten, wenn wir es nur ernsthaft wollten. Geistliche Veränderungen vollziehen sich in einem komplexen Miteinander von göttlichem und menschlichem Wirken. Heiligung ist ein Joint Venture, in dem Gott und Mensch kooperieren.

 

Zwischen Zuckerbrot und Liebe

Am Anfang jeder geistlichen Veränderung steht Gnade. Gnade – das ist Gottes bedingungsfreie Zuneigung, sein felsenfestes Ja zu mir trotz all meiner Macken, Schuld und Schatten. Gnade, die vergibt und mir die Freiheit zum Neuanfang schenkt. Gnade, die liebt, auch wenn da scheinbar nichts Liebenswertes ist. Solche Gnade hat ein enormes Veränderungspotenzial. Sie kann uns von innen her erneuern. Das war vor über 500 Jahren die Schlüsselerfahrung von Martin Luther. Jahrelang hatte er sich als Mönch bemüht, sein Leben zu verändern und ein guter Mensch zu werden. Doch es blieb alles nur Kampf und Krampf, weil sein Herz voller Angst war. Angst, nicht zu genügen und von Gott verworfen zu werden. Er wollte Gott lieben und konnte es nicht, weil er sich vor seiner Strafe fürchtete. In einem Klima der Angst kann keine Liebe wachsen. Während er die Heilige Schrift studierte, entdeckte Luther die Gnade: Gott schenkt uns seine Gerechtigkeit unverdient um Christi willen. Er bringt uns mit sich ins Reine ohne unser Zutun, aus reiner Zuneigung. Und mit einem Mal erlebte Luther, wie im Raum dieser Gnade Liebe und Vertrauen sprossen, Lust auf Gott und aufs Gebet, Lust, anderen Menschen Gutes zu tun. All das, worum er sich so verkrampft bemüht hatte, erfüllte sein Herz, als er Gnade erfuhr. Luther selbst beschreibt es so: „Also fließet aus dem Glauben (an Gottes Gnade) die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten zu dienen umsonst!“

In einem Klima der Angst kann keine Liebe wachsen.

Wenn Menschen sich selbst oder andere verändern wollen, verfolgen sie gewöhnlich die Strategie von „Belohnung und Bestrafung“. Es ist das alte Spiel von Zuckerbrot und Peitsche, das man tausendfältig variieren kann. Solche Strategien können das äußere Verhalten formen. Mehr nicht. Gnade setzt viel tiefer an. Sie verändert von innen her. Sie berührt das Herz. Wenn Gott mich uneingeschränkt liebt, dann kann ich vor ihm ehrlich werden. Ich muss das Dunkle, das in meinem Inneren wohnt und das die Bibel Sünde nennt, nicht mehr verstecken, verdrängen, verleugnen, sondern kann es vor Gott eingestehen und erfahren, dass seine Gnade die Schuld tilgt. Das Böse kommt ans Licht und verliert seine Macht. Wenn Gottes Liebe mich berührt, kann das Herz weit werden. Liebe zündet Liebe an und lässt lauter Gutes in uns entstehen. Gnade ist der Schlüssel für jede geistliche Veränderung. Sie steht am Anfang unserer geistlichen Lebensreise und trägt uns bis zum Ende. Dabei ist es nicht so, dass die Gnade einen Anfangsimpuls setzt, durch den wir zu immer neuen geistlichen Höhen fortschreiten, sodass wir der Gnade nicht mehr bedürfen. Diese Vorstellung gab es ja in der Christenheit immer wieder: Wenn wir uns nur ernsthaft bemühen, dann können wir durch die Gnade Gottes die Sünde in uns ausmerzen und wahrhaft heilige, vollkommene Menschen werden. Wer sich diesen Träumen hingibt, endet unweigerlich in Selbsttäuschung, Heuchelei oder Verzweiflung. Heiligung im biblischen Sinne meint nicht, dass wir allmählich „bessere“ Menschen werden. Wir bleiben Sünder und leben von Gottes unverwüstlichem Erbarmen. Jeden Morgen fangen wir vor Gott bei null an, mit leeren Händen. Und jeden Morgen ist seine Barmherzigkeit neu und füllt unser Herz mit frischer Liebe (Klagelieder 3,22–23).

 

Christliches Leben ist Leben aus Gnade. Doch diese Gnade führt nicht in Passivität und Lethargie. Sie ist keine „billige Gnade“. Darin sah Dietrich Bonhoeffer die große Gefährdung im Protestantismus: dass er die Gnade Gottes zur Schleuderware macht und Vergebung verspricht, ohne zur Umkehr zu rufen.

 

In der Kraft des Heiligen Geistes

Echte Gnade ist teure Gnade. Echte Gnade lässt uns nicht, wie wir sind, sondern verändert uns von innen her durch die Kraft des Heiligen Geistes. Geistliche Transformation ist nicht das Ergebnis heroischer Entscheidungen oder eiserner Disziplin. Sie wird in der Bibel als Frucht beschrieben, die Christus durch den Geist in uns wachsen lässt (vgl. Galater 5,22–23; Johannes 15,5). Kein Baum kann eine Frucht aus sich herauspressen. Genauso wenig können wir in uns Güte, Demut oder Vertrauen durch Willensanstrengung hervorbringen. Das Wachsen einer Frucht ist ein Wunder des Schöpfers. Das gilt für die Äpfel am Baum wie für die Güte im Herzen. Dies Wunder geschieht, wenn Gottes Geist in unserem Inneren wirkt. Alle geistlichen Veränderungen sind ein Geschenk und Werk Gottes. Doch wenn der Heilige Geist in uns wirkt, schließt das unsere Beteiligung nicht aus. Im Gegenteil: Gottes Geist bezieht unser Denken, Wollen und Tun mit ein. Er erhellt unseren Verstand, sodass wir neue Gedanken denken können. Er bewegt unseren Willen, sodass wir neue Motivation spüren. Wir werden vom Geist Gottes nicht ferngesteuert, sondern er eröffnet einen Raum der Freiheit, in dem Neues möglich wird, das wir dann tun können. Denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (vgl. 2. Korinther 3,17)! Der Heilige Geist verstärkt unser Wollen und beflügelt unsere Bewegung.

Gottes Geist nimmt uns die Arbeit der Veränderung nicht ab, aber er wirkt in unserem Wirken mit. Wenn wir Schritte gehen, dann kommt seine Kraft in unseren Gang. Er verstärkt unser Wollen und beflügelt unsere Bewegung.

Seit Kurzem bin ich stolzer Besitzer eines E-Bikes und bin begeistert! Mit so einem Rad kommt man spielend alle Berge hoch. Es verschafft neue Beweglichkeit und neue Tourmöglichkeiten. Dabei nimmt mir der Motor das Strampeln nicht ab. Ich muss in die Pedale treten, damit der Motor in Gang kommt. Bleibe ich passiv, passiert nichts. Doch in dem Moment, wo ich in die Pedale trete, verstärkt der Motor meine Kraft und bringt mich voran. Es ist ein Ineinander und Miteinander von Muskelkraft und Technik.

 

So ähnlich ist es mit dem Heiligen Geist. Er nimmt uns die Arbeit der Veränderung nicht ab, aber er wirkt in unserem Wirken mit. Wenn wir Schritte gehen, dann kommt seine Kraft in unseren Gang. Er verstärkt unser Wollen und beflügelt unsere Bewegung. Spirituelle Veränderung ist also das Ergebnis einer Synergie, einer Zusammenarbeit zwischen dem Geist Gottes und uns. Wie genau diese Zusammenarbeit aussieht, wird von Siegfried Kettling treffend beschrieben: „Das göttliche Wirken lässt sich zu unserem Wirken eben nicht alternativ verstehen (Er oder wir), auch nicht additiv (Er und wir: 99 Prozent zu 1 Prozent), sondern ,dimensional‘. Die ,Dimension‘ des göttlichen Handelns umschließt, umgreift, durchdringt und durchtränkt, ja trägt und ermöglicht unser Wirken. Gott handelt nicht so, dass er sein Geschöpf annulliert, sondern wie er uns den Willen schuf, so beginnt er, unseren Willen durch seinen Geist von innen her zu bestimmen.“

Diese Zusammenarbeit wird vom Apostel Paulus in Römer 12,2 auf den Punkt gebracht. Hier fordert er die Christen in Rom auf: „Metamorphouste!“ Das griechische Wort ist grammatisch betrachtet ein Imperativ Passiv und bedeutet: „Lasst euch umwandeln!“ Lasst es zu, dass Gott in euch Veränderung bewirkt! Geistliche Umgestaltung ist Gottes Werk. Doch es kommt darauf an, dass wir dieses Werk zulassen, indem wir seinem Geist Raum geben.

 

Veränderung einüben

Wie können wir nun Raum schaffen für Gottes Wirken in uns? Eine wesentliche Hilfe dafür sind sogenannte „geistliche Übungen“. Das sind Praktiken, die sich seit Jahrhunderten in der Christenheit bewährt haben, um die Gottesbeziehung zu vertiefen. Zu diesen geistlichen Übungen gehört in zentraler Weise das Gebet, also die persönliche Zwiesprache mit Gott. Im Gebet öffnen wir unser Herz für Gott und teilen unser Leben mit ihm. Eine weitere wichtige Übung ist das regelmäßige Lesen in der Bibel. Hier hören wir auf Gottes Worte und lassen sie einsinken in unsere Gedanken und Gefühle. Zu den geistlichen Übungen gehören auch Stille und Einsamkeit. Wir suchen Orte auf, wo wir ungestört sind und wo Raum ist für die Begegnung mit Gott. Es gibt geistliche Übungen, die wir in Gemeinschaft vollziehen, zum Beispiel gemeinsamer Lobgesang und die Feier des Abendmahls. Weitere Übungen sind Tagebuchschreiben, Fasten, Seelsorge und Beichte. All diese Übungen sind keine Mittel, um Gottes Sympathie zu gewinnen. Sie sind auch kein Selbstzweck. Richard Foster, ein Theologe, der mit seinem Bestseller „Nachfolge feiern“ dem Protestantismus die klassischen geistlichen Übungen in Erinnerung gebracht hat, schreibt: „(Durch die geistlichen Übungen) wird der Boden für das Wirken des Heiligen Geistes vorbereitet. Wir selbst werden dabei in die Erde gelegt, dahin, wo Gott am besten an uns arbeiten und uns verwandeln kann. Die Übungen an sich haben keinen Wert, sie können uns nur dahin bringen, wo etwas an uns und mit uns geschehen kann. Sie sind ein Weg, auf dem Gott seine Gnade an uns wirken lassen kann.“

Durch Gebet und Schriftbetrachtung, Stille und ehrliche Selbstreflexion öffnen wir dem Heiligen Geist die Tür in unsere inneren Gemächer. Es entsteht ein Raum in unserem Inneren, in dem Gott uns berührt und beeinflusst.

 

In der Nähe meiner früheren Gemeinde gibt es ein Kloster. Einmal im Monat fuhr ich dorthin, hatte ein Zimmer für mich und einen halben Tag Zeit für die Begegnung mit Gott. Es tat so gut, ohne Zeitdruck einen Bibeltext zu meditieren und bei langen Spaziergängen alles mit Gott zu besprechen, was mir auf dem Herzen lag. Ich übte mich im Schweigen und Hören und schrieb in mein Tagebuch, was mir an Fragen und Gedanken durch den Kopf ging. Immer wieder erlebte ich, wie in dieser Zeit die Seele aufging und der Heilige Geist seinen Einfluss auf mich ausübte. Immer wieder bekam ich an diesen Tagen eine neue Sicht auf mein Leben und konnte ein bestimmtes Problem aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich erlebte, wie ich Enttäuschungen und Ärger vor Jesus verarbeiten konnte, wie mein zerbrechliches Vertrauen gestärkt wurde und wie Entschlüsse reiften. Oft waren diese Stunden im Kloster Schlüsselmomente für meine Arbeit in der Gemeinde und für mein persönliches Leben. Es war fast immer schwierig, mir so einen halben Tag freizuschaufeln. Mehrmals kam es vor, dass ich meinen Klostertermin kurzfristig wegen „dringlicher“ Gemeindesachen absagte. Aber jedes Mal, wenn ich dorthin fuhr, kam ich gestärkt und erfrischt zurück. Zeit mit Gott zu verbringen und geistliche Übungen zu praktizieren ist tatsächlich der Schlüssel zur Veränderung. Hier kann Gott an unserem Herzen wirken und sein Geist in unser Leben hineinwehen. Anschaulich formuliert dies Jörg Ahlbrecht in seinem Buch „Dem Leben Flügel geben“: „(Geistliche Übungen) versetzen unser Leben in einen Zustand, in dem wir dem Geist Gottes eine möglichst große Angriffsfläche bieten, damit der Wind Gottes wehen kann und unser kleines Lebensschiff weit nach vorne bringt.“

Zeit mit Gott zu verbringen und geistliche Übungen zu praktizieren ist tatsächlich der Schlüssel zur Veränderung.

Wenn wir diese Übungen praktizieren, halten wir uns Gott hin und lassen ihn wirken. Hier kann es zu einer Berührung zwischen seiner Welt und unserer Welt kommen. Hier kann der Glaube vom Kopf ins Herz und von dort in die Hände fließen. Wenn Sie ernsthaft Ihr Leben von Gott voranbringen lassen wollen, dann sind geistliche Übungen unverzichtbar. Entscheidend dabei ist die Regelmäßigkeit. Durch die stetige Wiederholung beginnen die Übungen, unsere Gedanken und Gefühle, unseren Glauben und Charakter zu formen. Es ist wie mit den Fitnessübungen für den Körper. Wenn Sie nur einmal im Jahr zu McFIT gehen und dort sechs Stunden trainieren, wird die einzige Auswirkung auf Ihren Körper ein heftiger Muskelkater sein. Wer seinen Körper formen will, sollte sich besser eine Jahreskarte fürs Fitnessstudio holen, denn nur durch regelmäßige Bewegung werden die Muskeln aufgebaut. Genauso wichtig ist die Regelmäßigkeit bei den geistlichen Übungen. Nur wer sie zur Gewohnheit macht, wird erleben, wie sie den Glauben stärken. Jörg Ahlbrecht dazu: „Es sind die kleinen Gewohnheiten unseres Lebens, die uns entweder näher zu Gott bringen oder von ihm weg.“ Veränderung durch den Glauben hat also etwas mit Übung zu tun. Die oben beschriebenen Praktiken sind dabei so etwas wie Geistliche Übungen sind die tägliche Gymnastik des Christseins.

 

Es ist die tägliche Gymnastik des Christseins. Doch das Üben betrifft auch die anderen Bereiche des Lebens. Liebe zeigen und Vertrauen wagen, Dankbarkeit empfinden oder großzügig teilen, Schuld vergeben oder den Neid überwinden – all diese Dinge fliegen uns nicht einfach zu. Gottes Geist lässt sie in uns wachsen, indem wir sie einüben. Im Grunde vollziehen sich alle geistlichen Veränderungen als Übungs- und Lernprozesse. Das gehört zur menschlichen Seite des Glaubens. Dabei sollten wir aber immer in Erinnerung behalten, dass das Entscheidende nicht von uns getan werden kann. Alles Reifen im Glauben bleibt ein Wunder, das aus Gottes Gnade in der Kraft seines Geistes geschieht.

Steffen Tiemann

ist Pfarrer der Auferstehungsgemeinde in Bonn. Der vorliegende Artikel ist ein bearbeiteter Auszug aus seinem Buch „Die 7 Pfade zur Veränderung – Wie der Glaube ins Leben greift“, das Anfang August bei SCM R. Brockhaus erscheint. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.

 

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