MINDO: Herr Hipler, Vergebung ist längst nicht mehr ein allein im christlichen Kontext benutzter Begriff, auch in der Psychologie hat man mittlerweile den Nutzen von Vergebung erkannt. Wenn zu vergeben also offensichtlich so etwas durch und durch Gutes für uns ist, warum fällt es uns dann trotzdem oft so schwer?

 

MATTHIAS HIPLER: Zum einen fällt es deshalb so schwer zu vergeben, weil der mir zugefügte Schmerz weiter wirkt und mich an die Kränkung und den Kränkenden erinnert. Und zum anderen glauben wir, wir würden durch Vergebung einen „Joker“ aus der Hand geben. Denn wenn wir vergeben, dürften wir die Verletzung nicht mehr vorwerfen. Und befürchten, so in eine schwächere Position zu gelangen.

Wir dürfen darum vor allem eins nicht vergessen: Vergebung braucht einfach jeder von uns! Ich will nicht, dass mir mein Fehlverhalten dauerhaft von anderen aufs Butterbrot geschmiert wird. Und wenn ich einem anderen etwas nachtrage, kostet mich das Kraft und ich habe die Hände nicht frei für eine Umarmung. Die bitteren Gefühle bleiben dann bei mir und das macht auf Dauer krank. Beziehungen leben von Vergebung. Glauben wir, ohne Vergebung leben zu können, erstarren sie.

 

 

Angenommen, jemand hat mich verletzt. Ich vergebe der betreffenden Person und für kurze Zeit fühle ich mich frei und voller Frieden. Doch ein paar Tage später schnellt der Schmerz in mir hoch und ist so groß wie nie. Habe ich etwas falsch gemacht – oder habe ich bloß falsche Erwartungen an Vergebung?

 

Nein, Sie haben nichts falsch gemacht. Wer verletzt wurde, ist Opfer eines anderen geworden. Er findet sich in einer Art „Opfergefängniszelle“ wieder, deren Wände Wut, Trauer, Schmerz und Minderwertigkeit heißen. Je schmerzlicher die Kränkungen, desto dicker sind die Mauern der Gefängniszelle, desto länger brauche ich, um mich aus der Opferrolle herauszukämpfen.

Vergebung ist die Tür aus dieser dunklen Zelle zurück ins Licht. Wer vergibt, beginnt also selber zu handeln und ist nicht mehr nur Opfer. Die Zeit für konkrete Vergebungsschritte muss jedoch im Inneren heranreifen. Da braucht es Geduld und keinesfalls Druck von außen.

 

 

Es heißt, Vergebung sei ein bewusster Entschluss. Kann man also vergeben, obwohl man noch wütend ist?

 

Eine wichtige Voraussetzung, um vergeben zu können, besteht zunächst einmal darin, dass die Verletzungen beendet sein müssen. Ich kann nicht heute vergeben, wenn ich weiß, dass ich morgen wieder auf die gleiche Weise verletzt werde.

Jede Verletzung sehnt sich früher oder später nach heilsamer Vergebung.

Wir müssen jedoch nicht warten, bis wir gefühlsmäßig voll auf Vergebung gestimmt sind. Es geht vielmehr um eine willentliche Entscheidung: „Ich verzichte ab heute darauf, dem anderen sein Fehlverhalten vorzuwerfen und nachzutragen. Ich gebe, was ich gegen ihn habe, hier und jetzt aus der Hand!“ In der Regel folgen unsere Gefühle der bewussten Entscheidung bald, Ärger, Trauer und Schmerz klingen ab.

 

 

Und wie sehen erste gangbare Schritte hin zur Vergebung aus?

 

Wichtig finde ich, die erlittene Kränkung in Worte zu fassen und auszusprechen. Wenn möglich, sollte ich dem Verursacher klar sagen, wodurch ich mich verletzt fühle. Nimmt der andere mich ernst, kann ich meine Anklage fallen lassen und die Beziehung wird bereinigt.

Wenn der andere sich nicht darauf einlässt, tut es gut, mich erstmal zu distanzieren. Ich darf dann meine Wunden lecken, schmerzliche Gefühle zulassen, das Geschehene verarbeiten und auch Gott mein Leid klagen. Und wenn ich dann merke, dass es Zeit ist, mich von bitteren Gefühlen zu reinigen, kommen Vergebungsschritte an die Reihe. So kann ich zum Beispiel die erlittenen Verletzungen auf ein Blatt schreiben und dieses dann in Stücke reißen oder verbrennen, um mir vor Augen zu führen, dass ich die Anklage fallen gelassen habe.

 

 

Zu vergeben lohnt sich, weil …

 

… ein Festhalten an der Schuld die Seele krank macht und beschwert.

… es die Chance zu einer echten Versöhnung eröffnet.

… gute, unbelastete Beziehungen so kostbar sind, dass jede Anstrengung lohnt, Schuld aus dem Weg zu räumen.

… es manchmal der einzige Weg ist, um den eigenen inneren Frieden wiederzufinden.

 

 

Und welcher biblische Gedanke hilft Ihnen persönlich zu vergeben?

 

Der Satz aus dem Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Er erinnert mich daran, dass wir alle in einem „Schuldboot“ sitzen und ich genauso auf Vergebung angewiesen bin, wie derjenige, der an mir schuldig geworden ist. Dabei ist für mich die von Gott geschenkte Vergebung die Kraftquelle, auch anderen großherzig und verzeihend zu begegnen. Manchmal sofort, manchmal nach einer Weile, und manchmal kann es auch lange dauern. Aber jede Verletzung sehnt sich früher oder später nach heilsamer Vergebung.

 

Herr Hipler, vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

 

Lesen Sie hier → auch den Beitrag von Reinhold Ruthe „Vergebung: Heilung für Beziehungswunden“

 

MATTHIAS HIPLER

betreibt eine Praxis für Psychotherapie, Paartherapie und Coaching in Hanau.

 

www.psychotherapie-hipler.de

Leserfrage: Vergeben und vergessen?

Was hilft Ihnen, zu vergeben? Was tun Sie, was vermeiden Sie? Und heißt „vergeben“ für Sie auch „vergessen“ – oder eher nicht?

 

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