Wo Menschen in Familien, in Partnerschaften und am Arbeitsplatz zusammenleben, gibt es Auseinandersetzungen, Meinungsverschiedenheiten und Streit. Konfliktlosigkeit gibt es nicht. Darum ist Vergebung ein unbezahlbarer Schlüssel für ein friedliches und weitgehend konfliktfreies Zusammenleben. Wer vergeben kann, vermeidet Distanz, Feindschaft und Hass. Das Miteinander funktioniert. Das Zusammenleben klappt.

 

Wir rechtfertigen unser Tun

Leider gibt es zwischenmenschliche Praktiken, die Frieden und Übereinstimmung stören. Die Selbstrechtfertigung ist eine schlimme menschliche Gewohnheit. Wir halten bestimmte Einsichten, Überzeugungen und Selbsteinreden für wahr. Es begann im Paradies bei Adam und Eva. Rechtfertigungen sind die beliebtesten Selbsttäuschungen und Lügen, die es gibt. Man war es nicht selbst, sondern der andere. Bei Adam war es Eva. Bei Eva war es die Schlange. Mann und Frau reden sich heraus.

 

Wie kennzeichnen wir fachlich diese Selbstrechtfertigungen?

Wir sprechen von unserer „privaten Logik“,

von „Selbsttäuschungen und Selbstbetrug“,

von „Selbsteinreden und Selbstindoktrination“,

von „Vorurteilen und unseren Deutungen“.

Und: Wir glauben an unsere Selbstrechtfertigungen.

 

Unterschiedliche Persönlichkeits-Typen reagieren unterschiedlich

Wir Menschen sind in Haltungen, Einstellungen und Reaktionen grundverschieden. Es gibt Frauen und Männer, die reden drauflos. Es schmerzt sie kaum, wenn sie sich im Vokabular vergreifen. Sie verletzen, ohne es zu merken. Sie kränken, sie beleidigen.

Dann gibt es die Sensiblen. Sie fühlen sich ständig angegriffen, nicht ernst genommen und wollen nicht anecken, nicht wehtun.

Und dann gibt es die überaus Korrekten. Sie legen jedes Wort auf die Goldwaage. Sie lieben die „reine Wahrheit“. Sie grübeln tagelang über die Gedanken des anderen nach.

Die einen reagieren ärgerlich und wütend. Sie brüllen. Sie machen ihrem Herzen Luft. Die anderen schweigen, nehmen alles nach innen und leiden.

 

Schon hier wird unmissverständlich deutlich: Wer Meinungsverschiedenheiten, Beleidigungen und Kränkungen schluckt und wer Auseinandersetzungen nicht klärt, untergräbt die Gemeinschaft und wird zum Außenseiter. Die Beziehungen sind vergiftet.

Wir brauchen die Erinnerung, um Fehler, Schwächen und Sünden nicht zu wiederholen.
Vergeben hat nichts mit Vergessen zu tun

Wenn wir ehrlich um Vergebung bitten, sind Kränkungen und Beleidigungen noch nicht vergessen. Wir erinnern uns, was wir angerichtet haben. Im Gehirn werden alle Erlebnisse gespeichert und auch unser Gegenüber hat alles gespeichert. Die Vergebung hat Frieden geschaffen, ein gestörtes Miteinander ist aufgehoben. Aber wir brauchen die Erinnerung, um Fehler, Schwächen und Sünden nicht zu wiederholen. Immer wieder ist in der Bibel von der Gesinnungsänderung die Rede. Der neue Mensch muss alte Sünden und störende Umgangsmuster mit Gottes Hilfe beiseite legen.

 

Vergebung und Schuldgefühle

Schuld und Schuldgefühle gehören zusammen. Schuldgefühle sind ein Helfer, Vergebung schneller und ernsthafter anzusprechen. Zweifelsohne gibt es Menschen, die ein über empfindliches Gewissen haben, wir bezeichnen sie als „Skrupulanten“. Der Begriff kommt vom lateinischen Wort „skrupulus“, das heißt spitzes Steinchen“. Sie leiden mehr als der Durchschnitt unter zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen.

 

Menschen mit großen Schuldgefühlen machen häufig mehr Vorwürfe und kritisieren schärfer. Sie wollen alles zum Gespräch erheben und machen aus Mücken Elefanten. Wenn sie sich ihre Kontoauszüge anschauen, wandern ihre Augen ständig über zwei Spalten: „Soll“ und „Haben“. „Soll“ ist der Ausdruck, der wortgeschichtlich mit Schuld zusammenhängt. Mein Soll ist das, was ich schuldig bin. Meine Schuld wir erlebt

in Form von Lieblosigkeit,

in Form von Eigennutz,

in Form von Rücksichtslosigkeit,

in Form von Ungeduld,

in Form von Hartherzigkeit.

 

Leider können starke Schuldgefühle auch benutzt werden, andere Menschen, den Partner, Kollegen und Kolleginnen zu erpressen, zu ermahnen und zu belasten. Wer damit anfängt, braucht Beratung und Seelsorge, um seine Einstellungen zu korrigieren.

 

Lebensangst und Vergebung

Wahrscheinlich beginnt unser Erdendasein mit Angst. Unser Leben beginnt mit einem Schrei: Wenn der Säugling vor Angst aufschreit, ist er geboren. Und die ängstlichen Einflüsse setzen sich fort: Ängstliche Eltern, Großmutter, Großvater und Geschwister können Angst vertiefen.

 

Ängste können im Leben unzählige Probleme hervorrufen.

Ängste können einen ständigen Rückzug hervorrufen.

Ängste nehmen dem Heranwachsenden den Mut, sich ehrlich und offen zu äußern.

Ängste machen unsicher,

Ängste rauben das Selbstvertrauen,

Ängste rauben die Entscheidungsfähigkeit,

Ängste verursachen Rückzug,

Ängste lassen den Menschen unnötig schweigen.

 

Was heißt das in Bezug auf die Vergebung? Wer Vergebung anbietet, sieht seine Probleme ein. Es ist gut, Schuld einzugestehen. Der Ängstliche traut sich nicht. Der Ängstliche schweigt und leidet und nimmt alle Probleme nach innen. Und die Probleme fressen ihn auf. Der Mensch benutzt die Angst,

um vor Aufgaben,

um vor Beziehungen,

um vor Bindungen,

um vor neuen Wegen zu fliehen.

 

Was sind die Motive unserer Reaktionen und Einstellungsmuster?

Wenn wir einem Menschen in Beratung, Therapie und Seelsorge helfen wollen, müssen auch die Beweggründe, die Motive unserer Überzeugungen, und die Gewohnheiten aufgedeckt werden.

Alle Spielarten von Vergebung, von Schuldgefühlen, von Vorwürfen und Kritik hängen mit unserem Lebensstil zusammen. Der Lebensstil verkörpert unser Denken, Fühlen und Handeln. Er verkörpert unsere Art, wie wir Konflikte lösen und wie wir Beziehungen pflegen. Nur wenn wir sie konkret benennen können, lassen sie sich konkret verändern.

Viele Menschen denken und handeln unverstanden und unbewusst. Sie reagieren

mit Angriff,

mit Rechtfertigung,

mit Rückzug,

mit Wut und Ärger,

mit Angst.

 

In Kindheit, im Elternhaus, in der Schule und in Freundschaften haben wir uns Muster zugelegt und angewöhnt, die unseren Vorstellungen entsprechen. Sie können positiv im Umgang mit anderen sein, sie können negativ und destruktiv wirken. Solange wir unsere versteckten und unbewusste Motive nicht durchschauen, gehen wir uns selbst auf den Leim.

 

Wir lernen, konkret zu beten

Viele Gebete sind ineffektiv, weil wir um die Heilung von Symptomen beten, die eigentlichen Motive bleiben jedoch im Dunkeln.

„Herr, hilf, dass ich den Streit mit meinem Kollegen beende!“, ist ein unvollkommenes Gebet. Warum? Das Motiv, das immer wieder den Streit hervorruft, bleibt unerkannt. Die Fragen hinter dem Streit lauten:

Will ich Recht haben, will er Recht haben?

Reagiere ich eifersüchtig und neidisch?

Fühle ich mich ihm unterlegen?

Habe ich Minderwertigkeitskomplexe?

Bin ich oder ist der andere ein Perfektionist?

Werde ich von Bitterkeit heimgesucht?

 

Motive über Motive! Wir müssen daran denken, dass Probleme im Zwischenmenschlichen, in der Kommunikation, immer auch Probleme des ganzen Menschen sind. Leib, Seele und Geist reagieren. Der Körper wird durch alle genannten Motive in Mitleidenschaft gezogen. Viele körperliche Leiden entstehen oft in direktem Zusammenhang mit seelischen Leiden und Schwierigkeiten.

Diese Motive müssen ans Licht. Die Motive müssen vor dem lebendigen Gott klar benannt werden. Die Gesinnungsänderung ist immer auch eine Motivationsänderung.

Wir müssen daran denken, dass Probleme im Zwischenmenschlichen, in der Kommunikation, immer auch Probleme des ganzen Menschen sind.
Versöhnt mit Gott und miteinander

Ein Pastor aus Tansania zeichnete einmal ein einleuchtendes Bild, was Vergebung und Versöhnung bedeuten. Er bat seine Zuhörer, das Bild im Herzen und Denken nachzuzeichnen. In seiner Sprache hat das Wort „Vergebung“ eine tiefe Bedeutung: Er erzählte, wie im Bauch einer Frau ein Kind heranwächst. Die Verbindung von Mutter und Kind, die Nabelschnur, heiße in der Sprache der Massai „Osotwa“. Dasselbe Wort würde auch benutzt, wenn Menschen, die Feinde waren, sich versöhnten und zueinander fänden.

Auch mit uns und Gott ist es ähnlich: Christus bedeutet die Versöhnung. Er ist die Nabelschnur zwischen uns und unserem himmlischen Vater. Und solange die Nabelschnur uns verbindet, leben wir.

 

Versöhnung ist mehr als ein Kompromiss nach dem Streit, mehr als ein Mittelweg trotz gegensätzlicher Standpunkte, mehr als ein Arrangement mit Augenzwinkern. Versöhnung und Vergebung sind die Grundlage des christlichen Glaubens. Sie sind notwendig, um eine tiefe und wahrhaftige Beziehung zum lebendigen Gott und zu unseren Mitmenschen zu schaffen.

 

 

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und kein Kompromiss nach dem Streit.

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und kein Arrangement mit Hintergedanken.

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und keine Zwischenlösung bis zum nächsten Machtkampf.

 

Versöhnung ist ungeteilte Freunde

und kein Einlenken mit zusammengebissenen Zähnen.

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und kein Nachgeben mit bitterem Nachgeschmack

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und kein grimmiges Schweigen nach einer Erpressung.

 

Versöhnung ist ungeteilte Freude

und erfasst den ganzen Menschen:

sein Herz und sein Denken,

seine Hände und seine Lippen.

 

Versöhnung ist ungeteilte Freude:

Die Herzen haben Frieden,

die Hände werden gereicht,

und die Zungen formulieren Nächstenliebe.

 

 

Lesen Sie hier → zum Stichwort „Schritte zur Vergebung“ auch das Interview mit Matthias Hipler.

Reinhold Ruthe

(1927–2023) war ein evangelischer Theologe, Berater und Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche. Er gilt als wesentlicher Impulsgeber der Seelsorgebewegung und hat sich als Autor von mehr als 100 Ratgeberbüchern mit psychologischem Schwerpunkt einen Namen gemacht hat. Sein Buch „Charlotte geht – Das hohe Alter, die Demenz und der Abschied von meiner Frau“ ist im Frühjahr 2019 im Kawohl-Verlag erschienen.  

 

 

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