Wie heißt’s?
Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?
Wer hat’s geschrieben?
Till Raether, geboren 1969, ist freiberuflicher Autor und Journalist, bekannt für seine Kriminal-Romane über den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur des Frauenmagazins „Brigitte“ lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Hamburg.
Worum geht’s?
Till Raether leidet an Depressionen – doch das weiß er viele Jahre lang nicht. Denn er erlebt das, was in der Medizin als mittelgradige Depression bekannt ist. Das Fatale an dieser Form: die Betroffenen leiden nach innen, nach außen „funktionieren“ sie jedoch. Und das oft für eine lange Zeit.
Im vorliegenden Buch erzählt der Journalist von seinem jahrelangen Kampf mit immer wiederkehrender Traurigkeit, Mutlosigkeit und Müdigkeit, die ihn zwar nicht krankenhausreif machten, aber sein Leben in ein unsägliches Grau tauchten. Eine seelische Wolke, die sich auf seine Arbeit und seine Familie niederschlug, und über die er hinwegzuspielen suchte. Denn lang lebte er in dem Glauben, er tue sich einfach nur „ein bisschen schwer mit dem Leben“.
Mit tiefer Selbsteinsicht schildert Raether, wie er sich mit Scham und Frustration, den eigenen Erwartungen und denen anderer sowie den inneren Stolpersteinen und Schweinehunden auseinandersetzte, die ihn daran hinderten, sich helfen zu lassen. Und wie er zu der Einsicht gelangte, dass man nicht warten muss, bis man auf dem Boden aufschlägt, bevor man sich wieder aufrichten kann.
Wie ich es finde.
Unglaublich wichtig, berührend und gleichzeitig mit einem wunderbar schalkhaften, selbstironischen Humor versehen, der dieses Buch zum Lesegenuss macht und Betroffenen das Gefühl geben kann, irgendwo schon mal am selben Punkt gewesen zu sein: Sei es die gesuchte Isolation von Bekannten, um keine nervigen flachen Ratschläge mehr hören zu müssen; die Schuldgefühle, ein Partykiller zu sein und allen die Stimmung zu verderben; oder mit der eigenen Irritiertheit die Familie zu verletzen. Aber auch die Momente, die mich schmunzeln ließen, wie zum Beispiel die wortgewandte Beschreibung jenes Gefühls, bei dem man sich vorkommt wie ein Achtjähriger, der „nach einem Streit im Hof die Spielzeugautos einsammelt“ und dann „oben auf dem Bett liegend ein Käsebrot kaut, wobei er die Tränen sowohl unterdrückt als auch herausquetscht“.
Tragischerweise ist ein Symptom von Depressionen der chronische Selbstzweifel: am eigenen Wert, an der Gültigkeit der eigenen Empfindungen oder der Wichtigkeit der eigenen Bedürfnisse. Ein Symptom, das gleichzeitig das Fortbestehen der Misere sichert, indem es den Betroffenen glauben macht, es existiere nicht – oder eben einfach nicht genug.
Nicht von ungefähr suchen viele Betroffene jahrelang keine Hilfe, verhindert von der Scham über die eigene vermeintliche Wehleidigkeit oder wegen verinnerlichter Erziehungs-Stoizismen wie „Reiß dich zusammen!“ oder „Hab dich nicht so!“ Gerade die „hochfunktionale Depression“, so treffend in diesem schmalen Band charakterisiert, lässt einen tückischerweise glauben, man sei nicht krank oder erschöpft genug, sich professionellen Rat zu holen, bis man im eigenen Fahrwasser mit den Zehenspitzen am Abgrund steht.
Raether wirft mit seinem Buch ein entlarvendes Scheinwerferlicht auf diesen Seelensaboteur und liefert damit die moralische Rückendeckung, die ersten Schritte in Richtung Genesung zu wagen.
Wer sollte es lesen?
Jeder, der glaubt, für professionelle Hilfe noch nicht in Frage zu kommen, aber dennoch dem Leben keine rechte Freude mehr abgewinnen kann. Jeder, der es satt ist, sich von seinem „inneren General“ triezen zu lassen. Und natürlich Angehörige und Freunde Betroffener, die verstehen wollen. Und dabei helfen, das Stigma, das psychischen Erkrankungen leider immer noch anhaftet, zu beenden.
Wo ist es erschienen?
Rowohlt Verlag, 128 Seiten, EUR 14,– (broschiert), EUR 9,99 (E-Book)
PATTY DOHLE
ist gelernte Buchhändlerin und leitet einen Buchladen in der englischen Kleinstadt Witney in der Nähe von Oxford.