Was genau sind eigentlich Essstörungen und wie entstehen sie? Um die Ursachen von psychischen Störungen herauszufinden, kann man prinzipiell zwei Richtungen wählen. Es ist wie bei einem Puzzle: Entweder setzt man die Teile zusammen, die tatsächlich auf dem Tisch liegen. Das hat – wenn es sich um so etwas Komplexes und Weitreichendes handelt wie die menschliche Seele – den Preis, dass man nicht vorhersagen kann, wie das Puzzle aussieht, wenn es vollständig ist. Man muss sich mit dem begnügen, was vorliegt, und zurückhaltend mit Schlussfolgerungen sein, die darüber hinausgehen. Oder man geht von einem fertigen Menschenbild aus, im Bild gesprochen: Man benutzt eine Vorlage für das Puzzle. Faktisch steht auch dann nur das zur Verfügung, was auf dem Tisch liegt. Aber anhand der Vorlage ergänzt man es – obwohl man nicht über die Puzzleteile verfügt, die nachweisen, dass es in diesem Fall auch wirklich so ist, wie die Vorlage es nahelegt. Der Nachteil solcher „Ätiologien“ (Ätiologie = Lehre von den Ursachen von Krankheiten) ist, dass die Diagnose der Vorlage, also dem Vor-Urteil, das man von dieser Person und dieser Krankheit  hat, angepasst wird.

 

Vorurteile vermeiden

Besser ist es natürlich, auf Vorurteile so weit wie möglich zu verzichten. Das ist besonders wichtig bei dem überaus weit verbreiteten ernsten Problem der Adipositas (Fettleibigkeit). Zu Beginn des Jahrtausends waren zum Beispiel mehr als die Hälfte der US-Amerikaner objektiv übergewichtig und fast 20 Prozent fettleibig. Ein Jahrzehnt ging es ähnlich vielen Deutschen so. Die wissenschaftliche Definition von Adipositas setzt bei 30 Prozent des Gewichts über dem Normalgewicht an. Fatal ist besonders, dass sich das Phänomen in den Wohlstandsgesellschaften immer weiter ausbreitet, besonders unter Kindern.

 

Die gesundheitlichen Folgeschäden sind katastrophal. Die Fakten dafür, dass die Ursache zu einem großen Teil in ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel liegt, liegen auf dem Tisch. Es gibt aber wahrscheinlich auch viele Menschen, bei denen die Fettleibigkeit eine genetisch bedingte Krankheit ist, gegen die sie nur wenig tun können. Begreiflicherweise wollen solche Menschen nicht dadurch diskriminiert werden, dass man ihnen unterstellt, zügelloses Essen und faules Herumsitzen seien an ihrem Problem schuld. Darum organisieren sie sich zum Teil auch bürgerrechtlich und pochen auf gesellschaftliche Akzeptanz.

 

Abgesehen von den Gewichtsproblemen und Essstörungen, die eine organische Ursache haben, sind die meisten Probleme dieser Art jedoch Ausdruck einer psychischen Störung.

 

Wie Essstörungen zustande kommen

Ein gesellschaftliches Problem

 

Sehr großen Einfluss auf das hohe Ausmaß der Essstörungen hat unsere kranke und krankmachende Wohlstandsgesellschaft. Diese Gesellschaft kultiviert die Unachtsamkeit zugunsten möglichst hemmungslosen Konsums. Ungesundes Ernährungsverhalten hat sehr viel mit Unachtsamkeit zu tun: Vielen Menschen fehlt eine freundlich selbstfürsorgliche Beziehung zu ihrem Körper. Sie spüren nicht richtig, was er tatsächlich braucht, sie sind sich nicht im Klaren über ihre wirklichen Bedürfnisse. Darum sind viele Menschen zwar sehr gut im Konsumieren, nicht aber im Genießen, denn Genuss braucht Achtsamkeit. Ein Ernährungsverhalten, bei dem das Genießen zweitrangig ist, wird ganz von selbst auf die eine oder andere Art problematisch. Oft tritt an die Stelle des Genießens die Gier und das Verschlingen.

Viele Menschen sind zwar sehr gut im Konsumieren, nicht aber im Genießen, denn Genuss braucht Achtsamkeit.

Wenn nicht das Genießen unser Ernährungsverhalten bestimmt, kann der Appetit zum Sklaven der selbstschädigenden Kompensation von unerfüllten Bedürfnissen werden. Zum Beispiel spielt bei etwa einem Drittel der Fettleibigen der „Kummerspeck“ eine wesentliche Rolle. Sie essen (und trinken), um sich damit zu trösten. Das mag durchaus guten Sinn haben, wenn es nicht auf Kosten des Genießens geht und kontrolliert bleibt. Der positive Einfluss des Essens und Trinkens auf die Stimmung kann sehr groß sein und das ist an und für sich kein Problem; überhaupt befinden sich Psyche und Ernährungsstoffwechsel in einem engen Einflussverhältnis aufeinander. Aber diesen Betroffenen fehlt das rechte Maß.

 

 

Anorexie und Bulimie

 

Es ist bemerkenswert, dass Bulimie und Anorexie fast nur bei Frauen vorkommt, und zwar vor allem bei jüngeren. Darin zeigt sich der enorme gesellschaftliche Einfluss auf das Störungsbild. Sehr viele Frauen fühlen sich offenbar immer noch genötigt, dem sexistischen Diktat der von Männern verordneten optimalen Körpermaße zu gehorchen.

 

Die erwähnte Maßlosigkeit hat einen wesentlichen Grund im gestörten Verhältnis zum eigenen Körper. Betroffene merken nicht, wann es genug ist – aber sie merken auch nicht, wann es nicht genug ist. Darum kann die Maßlosigkeit auch ins Gegenteil des Exzesses umschlagen: Man nimmt viel zu wenig zu sich, man fastet sich zu Tode!

 

Dieses Problem haben die sogenannten „Magersüchtigen“; das Fachwort für die Störung heißt Anorexia. Ihr Misstrauen gegen den eigenen Körper ist so ausgeprägt, dass sie sogar die Anzeige der Waage anzweifeln und etwas Dickes im Spiegel sehen, das definitiv nicht vorhanden ist. Sie unterwerfen sich einem rigorosen asketischen Diktat mit selbstmörderischer Tendenz. Anorektiker stehen tatsächlich in der Gefahr, an ihrer Magerkeit zu sterben.

 

Manche von ihnen leiden zugleich unter dem Störungsbild der Bulimie. Darunter versteht man immer wieder vorkommende hemmungslose „Fressattacken“, nach denen sich die Betroffenen nicht anders als durch stimuliertes Erbrechen zu helfen wissen. Anorektische Bulimiker bleiben mit Ausnahme dieser Exzesse konsequent bei ihrer maßlosen Diät. Bulimie kommt aber in allen „Gewichtsklassen“ vor.

 

Das Bulimieproblem ist Symptom des zwanghaften Bemühens um Kontrolle. Obwohl essgestörte Personen das Essen nicht genießen, beschäftigen sie sich ständig damit. Zielpunkt ihres Grübelns ist die ideale Diät, um die ideale Figur zu erreichen. Indem man aber das dankbare Genießen durch überstrenge, freudlose Verbote und Einschränkungen ersetzt, macht man sich den eigenen Organismus zum Feind. Er lässt das nicht einfach mit sich geschehen und rebelliert. Dann trotzdem auf dem naturwidrigen Kurs zu bleiben, ist auf Dauer außerordentlich anstrengend und gelingt eigentlich nur Anorektikern konsequent. Die anderen Essgestörten verlieren den Kampf: Das Pendel schlägt um, auf jeden neuen Versuch, das Abnehmen zu erzwingen, folgt eine neue Episode der Gewichtszunahme. Das ist natürlich nicht gerade gut für das Selbstwertgefühl.

 

 

Was hilft gegen Essstörungen?

1. Eine attraktive Vorstellung vom Genießen gewinnen

 

Psychologen haben herausgefunden, dass hemmungsloses Verschlingen von Nahrungsmitteln, die ungesund sind, aber gut schmecken, durch entsprechende Fantasien vorbereitet wird. Man sieht das fette Steak gewissermaßen vor sich und das Wasser läuft einem im Munde zusammen. Deshalb geht es darum, noch attraktivere bildliche Vorstellungen (Imaginationen) von dem zu gewinnen, was nicht nur lecker schmeckt, sondern auch guttut. Bei Anorektikern ist das Ziel der Übung, die prinzipielle Abneigung gegen das Essen zu überwinden.

 

Das Verändern der bildhaften Vorstellung ist therapeutisch besonders wichtig, weil man dadurch nicht in die Sackgasse des paradoxen Prozesses gerät, der für Probleme zwanghaften Bemühens um Kontrolle typisch ist: Man möchte mit dem Problem eigentlich nichts mehr zu tun haben, aber um das zu erreichen, beschäftigt man sich die ganze Zeit damit. Wenn die Fantasien, die sich dabei einstellen, einen hohen Lustfaktor beinhalten, ist es sehr wahrscheinlich, dass man der Lust darauf irgendwann nachgibt. Damit erreicht man genau das Gegenteil der eigentlichen Absicht.

 

 

2. Mit Geduld vorgehen statt mit Gewalt

 

Den Schwerpunkt auf radikales Fasten zu legen, um die Gewichtsabnahme so schnell wie möglich zu erzwingen, ist eine grundsätzlich problematische Weichenstellung. Um gute neue Gewohnheiten zu entwickeln braucht man viel mehr Ja als Nein. „Ja“ heißt: Maß ist ein lohnendes Ziel. Sein gesamtes Ernährungsverhalten auf einen gesunden Stil umzustellen ist zweifellos ein lohnendes Ziel; die Gewichtsabnahme ist auf dem Weg dorthin nur noch eine gewünschte Nebenwirkung. Aber auch wenn die Weiche in diese eigentlich günstige Richtung gestellt ist, kann man vom wirklich gesunden Weg abweichen, indem man das gesunde Ernährungsverhalten zwanghaft betreibt. Das hat in der Gesellschaft so überhandgenommen, dass ein eigenes Störungsbild dafür formuliert wurde: die Orthorexia nervosa. Das ist die Essstörung, bei der das Denken ständig darum kreist, bei der Ernährung nur ja alles richtig zu machen.

 

Anorektiker, Bulimiker und Orthorektiker verdächtigen alles, was sie sich gönnen und erlauben könnten. Das Nein dominiert sie.

Das rechte Maß zu finden, ist für gesundes Ernährungsverhalten zweifellos alternativlos. Unter dem rechten Maß haben wir aber in dieser Hinsicht wie bei so vielen anderen Themen auch nichts Perfektes, sondern ausgewogene Werte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig zu verstehen. Peinlich darauf zu achten, immer alles richtig zu machen, geht auf Kosten des Genießens. Man kann nur genießen, wenn man sich den Genuss auch wirklich gönnt. Mit einem anderen Wort: wenn man sich ihn erlaubt. Erlauben und verbieten, das scheint die wesentliche Weichenstellung zu sein, die darüber entscheidet, ob jemand eine Essstörung überwindet oder darin gefangen bleibt. Es geht um den Unterschied von Dürfen und Müssen. Anorektiker, Bulimiker und Orthorektiker verdächtigen alles, was sie sich gönnen und erlauben könnten. Das „Nein“ dominiert sie. Die Freiheit liegt aber nicht im Nein, sondern in einem sinnvollen, vernünftigen Ja.

 

Das „Ja“ ist eine Frage der Achtsamkeit: Ich übernehme Verantwortung für mich selbst statt Krieg gegen mich selbst zu führen. Weil ich ein Mensch bin, tun mir Essen und Trinken gut, aber natürlich nur im passenden Maß. Darum ist es auch sinnvoll, wenn ich es genieße, das heißt: wenn ich mich daran freue. Denn warum sollte ich mich nicht freuen an dem, was mir guttut? Und dann überlege ich mir, wie die drei aussehen: das Genießen, das Guttun und das passende Maß.

Dementsprechend überlasse ich mein Ernährungsverhalten nun nicht dem Zufall, sondern plane es. Wenn ich in einer handfesten Essstörung gefangen bin, brauche ich dazu professionellen Beistand, am besten Kognitive Verhaltenstherapie. Eine dezidierte Hilfe zur achtsamen Planung ist dort die genaue, aber wohlwollende Selbstbeobachtung: Ich verschaffe mir einen realistischen Überblick meines tatsächlichen Ernährungsverhaltens und erkenne die Zusammenhänge zwischen vernünftiger Selbststeuerung und ihren erfreulichen Folgen.

 

 

3. Selbstvertrauen stärken und Gemeinschaft pflegen

 

Gemeinsamer Nenner von Anorexie, Bulimie und Orthorexie ist das Misstrauen der Betroffenen gegen sich selbst. Dieses zentrale Problem lässt sich unter dem Begriff „Selbstabwertung“ zusammenfassen: „Ich kann mir doch nicht trauen!“, sagt sich insgeheim die betroffene Person. Die Antwort darauf ist: „Doch, ich kann mir sehr wohl trauen, auch wenn es mir nicht leichtfällt, den passenden Ernährungsstil zu finden, mit dem ich mir nicht mehr selbst schade. Aber ich kann mich erfolgreich darum bemühen. Und das beweise ich mir jetzt auch.“ Generell gilt: In dem Maß, wie mein Selbstvertrauen wächst, stabilisiert sich auch meine Basis dafür, mit dem Ernährungsproblem souverän zurechtzukommen.

 

Sehr hilfreich für Selbstwertstärkung und Selbstvertrauen sind förderliche Beziehungserfahrungen: Angenommen zu sein, so wie man ist, ermutigende Rückmeldungen zu erhalten, wahrzunehmen, dass die andern auch nur Menschen sind, mit vergleichbaren Problemen oder vielleicht sogar noch ärgeren, sich gegenseitig zu unterstützen und miteinander zu genießen – all das sind sehr wertvolle Faktoren für Bewältigung und Prävention von Essstörungen. Dazu bieten sich nicht zuletzt kognitive-verhaltenstherapeutische Therapiegruppen an. Wo es diese gibt, kann man zum Beispiel bei der nächsten Psychosozialen Beratungsstelle erfahren.

Dr. PHIL. HANS-ARVED WILLBERG

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Philosoph und Theologe.

  

www.life-consult.org

  

www.isa-institut.de

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