Es ist Sonntag, kurz vor 10 Uhr morgens, und ich sitze in der Gemeinde. Gleich beginnt der Gottesdienst. Ich habe mich heute überwinden müssen zu kommen, denn eigentlich war mir gar nicht danach. Die Vorstellung, viele Leute zu treffen und vielleicht sogar noch angesprochen zu werden – „Hey, schön, dich zu sehen! Alles gut bei dir?“ –, hat mir Bauchschmerzen bereitet. Es ist gerade gar nicht „alles gut“ bei mir. Ich bin traurig. Bedrückt. Nachdenklich. Viele Gedanken kreisen in meinem Kopf, die mir nicht guttun. Aber ich kriege sie nicht weg!

 

Die Lobpreislieder sind mir fast ein bisschen zu laut, zu begeistert und sprechen mir so gar nicht aus der Seele. Ich stehe mit allen anderen auf, um mir nichts anmerken zu lassen, bringe aber keinen Ton heraus. Was stimmt nicht mit mir? Kurz bevor ich an meinen eigenen Gedanken irrewerde, ist der Lobpreisblock vorbei, und der Prediger tritt nach vorne. Wir setzen uns, und noch durstiger als zu Beginn warte ich auf ein paar erfrischende Tropfen Ermutigung oder Trost – irgendetwas, was mein inneres Chaos zur Ruhe kommen lässt und meinen Gedanken eine neue, positive Richtung gibt. „Der Vers, um den es heute gehen soll, steht in Philipper 4,4. Dort heißt es: ,Freut euch im Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freut euch!‘“

 

Wow, das hat gesessen! Wie ein sauberer, kraftvoller Faustschlag direkt in meine Magengrube! Die weiteren Ausführungen des Predigers kommen gar nicht mehr bei mir an. Ich habe jetzt endgültig zugemacht und kämpfe mit den Tränen. Ich kann das nicht! Wahrscheinlich bin ich hier einfach fehl am Platz. Wahrscheinlich habe ich die „Frohe Botschaft“ noch gar nicht verstanden. Wahrscheinlich habe ich einen zu kleinen Glauben. Wahrscheinlich lese ich zu wenig in der Bibel. Wahrscheinlich steht noch irgendeine Sünde zwischen mir und Gott … Ich harre irgendwie bis zum Ende des Gottesdienstes aus und stehle mich dann schnell und unauffällig davon. Wahrscheinlich … bleibe ich nächstes Mal einfach besser zu Hause!

 

Freut euch – allezeit!?

Kennen Sie so etwas? Ich persönlich habe das nicht nur einmal erlebt. Und wenn ich genau hinschaue, dann hatte es immer mit etwas zu tun, das ich den „frommen Anspruch an unsere Gefühlswelt“ nennen möchte. Es würde ein ganzes Buch füllen, wollte man sich fragend mit den Geboten, Regeln und Normen im Leben von Christen auseinandersetzen. Ich möchte aber hier gerne den Fokus auf einen Bereich richten, der nach meinem Empfinden noch etwas komplexer ist: Es ist nicht besonders schwierig für mich als Christin, nicht zu betrügen, hilfsbereit zu sein oder niemanden absichtlich zu verletzen. Das kostet mich zwar manchmal vielleicht Überwindung oder Zurückhaltung, aber ich kann mich dazu entscheiden. Doch was mache ich mit all den Erwartungen und Ansprüchen an meine Gefühle? Wenn ich mich einfach entscheiden könnte, mich „allezeit zu freuen“, würde ich das ja gerne tun! Aber ich kann nun mal nicht meine Gefühle wie an einem Mischpult regeln. Die Frage ist allerdings: Muss ich das überhaupt? Bin ich als Christin verpflichtet, mich immer gut zu fühlen? Ist ein Christ per definitionem immer zufrieden, fröhlich, positiv oder wenigstens dankbar? So zugespitzt gefragt würde es wahrscheinlich niemand bejahen. Wie also komme ich überhaupt auf so eine Frage?

Traurigkeit, Angst, Ärger sind doch negative Gefühle – oder etwa nicht? Ich halte diese Bezeichnung für problematisch, denn damit schieben wir viele unserer Gefühle in eine Ecke, die sie nicht verdienen.

Auf meinem bisherigen Lebens- und Glaubensweg habe ich die unterschiedlichsten christlichen Landschaften gesehen und kennengelernt. Und so sehr sie sich äußerlich auch unterscheiden mögen, so bin ich doch überall Menschen begegnet, die seit ihrer Entscheidung für Jesus scheinbar nur noch schöne, positive Dinge erlebten. Vielleicht kennen Sie diesen Effekt auch von Menschen, die scheinbar immer positiv denken und selbst in der größten Katastrophe noch ein „Ja, aber schau mal: Das Gute ist doch, dass …“ auf der Zunge haben. Was bewirkt das bei Ihnen? Wird die Katastrophe für Sie dann tatsächlich kleiner? Nimmt es Ihnen die empfundene Last von den Schultern? Oder kommt vielleicht sogar noch eine zweite Last hinzu, weil Sie sich unter Druck gesetzt fühlen, positiv und leichtfüßig mit der Sache umzugehen und nicht so sehr unter ihr zu leiden?

 

Meine Erfahrung ist, dass eher das Zweite passiert – sowohl bei mir selbst als auch bei den Menschen, mit denen ich spreche. Erst einmal ist es ganz natürlich, dass wir Menschen alles Unangenehme vermeiden wollen und das Angenehme suchen. So sind wir gebaut. Allerdings scheint mir, dass Christen das besonders intensiv und engagiert tun. Als wäre der Glaube eine Versicherung gegen Traurigkeit, Unzufriedenheit, Ärger, Einsamkeit und Angst und gleichzeitig eine Garantie für Freude, Mut und Zufriedenheit.

 

Das Problem mit „negativen“ Gefühlen

Nach meinem Psychologiestudium war ich fast zehn Jahre an einer psychosomatischen Klinik tätig, deren Konzept es ist, wissenschaftlich fundierte Psychotherapie auf der Basis eines aktiv gelebten christlichen Glaubens anzubieten. Der überwiegende Teil der Patientinnen und Patienten, die zu einer stationären Behandlung in die Klinik kamen, war deshalb christlich sozialisiert. Es war ihnen wichtig, nicht nur für Körper und Seele eine gute Behandlung zu erfahren, sondern auch geistlich aufzutanken. In den fast zehn Jahren als sogenannte Bezugstherapeutin habe ich dort also unzählige Menschen kennengelernt, die bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich Lebenssituation, Störungsbild oder Biografie alle eines gemeinsam hatten: Sie waren bekennende Christinnen und Christen, lebten im Vertrauen auf Gott und fühlten sich gleichzeitig psychisch so sehr belastet, dass sie professionelle Hilfe suchten. Viele sagten von sich, dass sie im Glauben großen Trost, Kraft und Halt erlebten, dass sie aber trotzdem massiv mit Ängsten, Depressionen oder Erschöpfung kämpften.

 

Für mich war das überhaupt keine Überraschung, denn genauso wie Christen von Infektionen, Autoimmunerkrankungen oder Krebs betroffen sein können, können sie natürlich auch psychische Erkrankungen entwickeln, wenn die entsprechenden Faktoren zusammenkommen. Was mich in Therapiegesprächen oft betroffen gemacht hat, waren Zwischentöne von Scham und Schuldgefühlen in Bezug auf ihre psychische Problematik: „Ich weiß ja, ich soll mir keine Sorgen machen, weil Gott für mich sorgt, aber trotzdem werde ich diese furchtbaren Ängste nicht los. Wahrscheinlich habe ich einfach einen zu kleinen Glauben.“

Wenn Jesus allein genug ist, wenn er alles für mich ist, dann gibt es doch keinen Grund für mich, irgendetwas zu vermissen, mich traurig oder einsam zu fühlen, oder?

Das Muster ist dabei immer dasselbe: Ich nehme ein „negatives“ Gefühl in mir wahr (Angst, Traurigkeit oder auch Ärger). Demgegenüber steht ein Anspruch, wie ich sein und was ich fühlen oder nicht fühlen sollte. Auf dieser Grundlage bewerte ich dann das Gefühl als unangemessen, schlecht oder falsch. Und nicht nur das: Ich verurteile mich selbst dafür und stelle eine neue Anforderung an mich, was ich besser machen muss, um dieses „negative“ Gefühl zu überwinden oder loszuwerden.

 

 pexels.com | David Garrison

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Vielleicht fragen Sie sich, warum ich das Wort „negativ“ immer in Anführungszeichen setze. Traurigkeit, Angst, Ärger usw. sind doch wohl negative Gefühle – oder etwa nicht? Ich halte diese Bezeichnung für problematisch, weil damit automatisch eine schlechte Bewertung verknüpft ist. Und damit schieben wir viele unserer Gefühle in eine Ecke, die sie nicht verdienen. Sie werden zum Tabu erklärt, obwohl sie äußerst wertvoll und wichtig sind. Vielleicht können wir uns darauf verständigen, diese Gefühle von nun an als unangenehm zu bezeichnen, denn das sind sie allemal. Ich kenne niemanden, der Traurigkeit, Angst oder Ärger als besonders angenehm erlebt und genießt.

 

Was aber ist das besondere Problem von Christinnen und Christen mit unangenehmen Gefühlen? Mein Eindruck ist, dass sie mehr als andere Menschen ihre unangenehmen Gefühle verurteilen und als etwas ansehen, was in ihrem Leben nicht (mehr) vorkommen sollte. Sie können vielleicht noch dazu stehen, dass sie vor ihrer Bekehrung ängstlich oder traurig waren, dass sie manchmal wütend wurden und ihre Gefühle „nicht im Griff“ hatten. Aber spätestens seit sie mit Gott leben, müsste so etwas doch Geschichte sein, glauben sie.

 

Jesus starb für meine Wut?

Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Gespräch mit einer Patientin, die wiederholt Opfer von Aggressionen und Gewalt geworden war. Sie war eine tiefgläubige Frau mit einem großen Herzen für Jesus und für ihre Mitmenschen. Ihre Stimme war ebenso ruhig wie ihr gesamtes Auftreten und sie zeigte sich immer freundlich und zugewandt. Das, was man vordergründig als sehr angenehm wahrnehmen könnte, hatte für mich aber einen „Beigeschmack“, denn die Frau wirkte auf mich nicht frei, nicht entspannt oder in sich ruhend. Und nicht umsonst war sie ja auch in die Behandlung gekommen, denn immerhin kämpfte sie mit Depressionen und psychosomatischen Beschwerden.

 

In den Gesprächen mit ihr, vor allem wenn sie aus ihrer Lebensgeschichte erzählte, spürte ich manchmal einen Ärger in mir aufsteigen, während die Patientin selbst ziemlich unberührt wirkte. Es ist übrigens gar nicht selten, dass Therapeutinnen und Therapeuten im Gespräch Gefühle empfinden, die eigentlich zu ihren Patientinnen und Patienten gehören, von diesen aber nicht ausgedrückt oder gezeigt werden. Da es für die Therapie ungeheuer wichtig ist, so etwas bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren, sprach ich es irgendwann an und fragte die Patientin: „Bei all dem, was Ihnen angetan wurde, kann man schon wirklich wütend werden. Wo ist denn eigentlich Ihre Wut?“ Die Patientin schaute mich etwas irritiert an und sagte: „Wieso Wut? Ich bin nicht wütend. Jesus ist doch für meine Wut gestorben.“

 

Es ist schon Jahre her, aber dieser Satz hat sich bei mir eingebrannt: „Jesus ist für meine Wut gestorben.“ Bis dahin war mir die Aussage geläufig: „Jesus ist für meine Schuld gestorben.“ Es klang so, als seien Wut und Schuld für die Patientin austauschbar. Tatsächlich betrachtete sie Wut bzw. Ärger als etwas Verwerfliches, Sündhaftes, das im Leben einer Christin nichts zu suchen hat. Und sie steht mit dieser Überzeugung nicht alleine da: Inzwischen habe ich viele Menschen mit einer solchen Haltung getroffen – nicht nur im therapeutischen Kontext, sondern auch in meinem privaten Umfeld.

 

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Dies ist keine Einladung zu Jähzorn oder hemmungslosem Ausleben von Aggressionen. Aber ich möchte eine Sensibilität dafür wecken, zwischen dem Gefühl von Ärger und dem aggressiven Wüten zu unterscheiden. Ohne Zweifel kann Ärger zu Verhaltensweisen führen, die zerstörerische Kraft haben. Das Gefühl von Ärger für sich genommen ist aber ein sehr wichtiges und kostbares Gefühl mit kreativem und konstruktivem Potenzial.

 

Gefühle – von Gott geschaffen

Aber auch Angst und Traurigkeit werden in christlichen Kreisen häufig negativ bewertet. Viele Christen gehen selbstverständlich davon aus, dass Gottvertrauen und Angst sich gegenseitig ausschließen müssen. Wenn ich also Angst habe, bedeutet das, dass ich Gott nicht liebe oder seine Liebe nicht annehme – und beides darf eigentlich nicht sein! Und nicht zuletzt hat Angst für viele auch etwas mit Ungehorsam gegenüber Gott zu tun. Immerhin lesen wir über 120-mal in der Bibel „Fürchte dich nicht!“ Und so habe ich – ehe ich überhaupt meine Angst verstehe oder ihr sinnvoll begegnen kann – nun zusätzlich zu meiner Angst auch noch eine ordentliche Portion Schuldgefühle!

 

Apropos traurig: Warum fällt es vielen Christinnen und Christen schwer, Traurigkeit zuzulassen? Der innere Konflikt entsteht hier auch wieder durch die Annahme, dass der Glaube an Gott mich über alles hinwegtrösten müsste. Ich bin traurig über eine zerbrochene Beziehung und fühle mich einsam? Ach was, ich habe doch Jesus! – „Jesus, du allein bist genug, du bist alles für mich …“, singen wir gerne in einem bekannten Lobpreislied. Wenn Jesus allein genug ist, wenn er alles für mich ist, dann gibt es doch keinen Grund für mich, irgendetwas zu vermissen, mich traurig oder einsam zu fühlen, oder?

 

Ich bin überzeugt: Wir Menschen sind als fühlende Wesen geschaffen. Warum also versuchen wir manchmal so angestrengt, sie zu unterdrücken, oder halten es für besonders geistlich, sie zu überwinden? Warum halten so viele Christinnen und Christen an der Überzeugung fest, „der neue Mensch“ (Epheser 4,24) müsse über unangenehme Gefühle erhaben sein, und fühlen sich schlecht, wenn sie sie doch noch immer wieder überraschen? Ich behaupte: Wenn Scham, Schuldgefühle und Selbstverdammnis die Früchte meiner Glaubensüberzeugung sind, dann ist an der Wurzel etwas gewaltig faul! Dann folge ich nicht dem Willen Gottes, sondern allenfalls religiösen Regeln und Gesetzen, die Gottes Wesen sehr verzerrt abbilden. Möglicherweise ist Gott unseren Gefühlen gegenüber sehr viel aufgeschlossener als wir selbst und kann deutlich mehr aushalten, als wir ihm zumuten.

Wenn Scham, Schuldgefühle und Selbstverdammnis die Früchte meiner Glaubensüberzeugung sind, dann ist an der Wurzel etwas gewaltig faul!

Stellen Sie sich doch einmal vor, ein Gitarrenbauer verkauft Ihnen eine Gitarre und betont mit ernster Miene, dass Sie nur die drei hellen Saiten spielen dürfen. Die tiefen Frequenzen der Basssaiten schaden angeblich dem Holz und dürfen auf keinen Fall angeschlagen werden. Sie würden sich doch sehr wundern! Sie würden sofort denken, dass dem Klang dann etwas ganz Wichtiges fehlt, und vielleicht würden Sie den Gitarrenbauer fragen, warum er überhaupt alle sechs Saiten aufgezogen hat, wenn nur die drei oberen gespielt werden dürfen. Wenn ich Gott als Schöpfer ernstnehme und den Menschen in seinem ganzen Sein als Gottes Geschöpf ansehe, dann gehören Gefühle zu unserer Grundausstattung, die der Schöpfer uns gegeben hat. Wie könnte er dann von uns wollen, einen Teil davon nicht anzurühren oder zur Seite zu drängen?

 

Vielleicht regt sich in Ihnen jetzt eine Stimme, die sagt: „Aber es steht doch nun einmal so deutlich im Wort Gottes, dass wir uns nicht fürchten sollen, dass wir lieben und nicht hassen sollen, dass wir getröstet sind usw. Das kann man doch nicht alles wegdiskutieren!“ Das will ich auch gar nicht. Im Zweifelsfall finden wir jedoch die Auflösung der Spannung im „Sowohl-als-Auch“ und nicht im „Entweder-Oder“. Es verlangt uns vielleicht in manchen Punkten ein gewisses Umdenken ab, einen Abschied von alten Denkgewohnheiten und Grundüberzeugungen und den Mut zu einer neuen Perspektive. Aber es lohnt sich, diesen Weg auszuprobieren!

 

Wie schön wäre es, wenn wir in Zukunft ganz gelassen und entspannt unseren unangenehmen Gefühlen begegnen könnten! Wenn wir ganz offen mit Menschen und mit Gott darüber reden – und sogar wertvolle Früchte daraus wachsen sehen könnten.

 

 

 

Der Artikel ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus dem Buch „Gefühle brauchen frische Luft: Ehrlich und gesund mit Ärger, Angst und Traurigkeit umgehen“, das in diesen Tagen bei SCM Hänssler erschienen ist. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.

Angelika Heinen

lebt im Rheinland und arbeitet dort als Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis. „Gefühle brauchen frische Luft“ ist ihr erstes Buch. 

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