Manche lieben wir, manche wollen wir am liebsten ganz schnell wieder loswerden. Die Rede ist von Gefühlen. Wir sagen es nicht laut, aber insgeheim unterscheiden viele von uns zwischen zwei Arten von Gefühlen: den „guten“ und den (vermeintlich) „schlechten“. Letztere versuchen wir schnellstmöglich abzuschütteln, denn „sie gehören sich nicht“. Also wird ein Dauerlächeln aufgesetzt und alles andere, was uns unangenehm ist, zu betäuben versucht. „Nur nicht negativ auffallen!“, lautet die Devise. Dabei wäre „Fühlen erlaubt“ die bessere!

 

Unterdrückte Gefühle

Als Sanna ihr Baby relativ früh in der Schwangerschaft verlor, erinnerte ihr Umfeld sie daran, dass das Baby „doch noch so klein“ gewesen sei. Dass man „damit rechnen“ müsse und es „beim nächsten Mal“ schon klappen würde. Die Botschaft, die bei ihr ankam, lautete: Deine Trauer ist überzogen und nicht okay. Also versuchte Sanna, ihre Trauer durch Rationalisieren wegzudrücken. Sie wollte sich „erwachsen“ benehmen.

 

Dann fing ihr Chef an, sie zu mobben. Einer Schikane folgte die nächste, bis Sanna nicht mehr konnte. Sie kündigte ihren Traumjob und fand sich plötzlich arbeitssuchend wieder. Wut meldete sich zu Wort: Wut auf ihren Chef, aber auch auf sich selbst, weil sie sich nicht ausreichend gewehrt hatte. Das zumindest sagten ihr ihre Freunde. Sie sei zu dünnhäutig. Und so schluckte Sanna ihre Wut herunter mitsamt allen anderen Empfindungen. Denn die durften ja scheinbar nicht sein.

 

Als sie kurze Zeit später einen neuen Job fand, war die Freude groß. Aber auch das war offensichtlich falsch. Denn ob sie die Probezeit überstehe, wo der Arbeitsmarkt so angespannt sei und sie ja weiterhin auf eine Schwangerschaft hoffe … „Lieber nicht zu früh freuen“, riet ihr ihre Familie. Sanna machte daraus „Lieber gar nicht freuen!“ Denn sicher ist sicher.

 

Sanna tat, wie ihr geheißen: trauerte nicht, war nicht wütend, freute sich nicht. Doch irgendwann meldete sich ihr Körper mit unerklärlichen Symptomen zu Wort. Es dauerte lange, bis sie die Zusammenhänge zwischen ihren unterdrückten Gefühlen und ihrem derzeitigen Zustand erkannte. Und ebenso lang, bis sie sich freigekämpft hatte und wieder zu fühlen erlaubte.

Gefühle wollen wahrgenommen werden. Sie dürfen hinterfragt und zum Anlass genommen werden, uns mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ein bisschen Sanna steckt in den meisten von uns. Wir möchten nicht anecken. Wir nehmen uns Kritik zu Herzen. Die entscheidende Frage aber ist: Ist sie berechtigt? Macht es uns gleich zur Heulsuse, wenn wir einen Verlust betrauern? Ist man gleich ein Wutwicht, nur weil man es nicht okay findet, ungerecht behandelt zu werden? Oder ein Problemausblender, nur weil man sich über positive Entwicklungen freut?

 

Gefühle wollen gefühlt werden

Wir sind herausgefordert, uns Kritik zu stellen – und sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Doch Gefühle zu unterdrücken ist nie eine gute Lösung, denn über kurz oder lang drücken sie wieder an die Oberfläche – mit voller Wucht! Gefühle wollen wahrgenommen werden. Sie dürfen hinterfragt und zum Anlass genommen werden, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. So gesehen sind sie kein Problem, das gelöst werden muss, sondern ein Geschenk, das ausgepackt und wertgeschätzt werden sollte – auch dann, wenn es sich erst mal nicht so anfühlt. In diesem Sinne: Erlauben Sie sich zu fühlen!

Nicole Sturm

lebt und arbeitet in Norddeutschland und unterstützt als psychotherapeutischer Coach (Heilpraktikerin für Psychotherapie) Menschen in den Herausforderungen des Lebens – online, telefonisch oder auch ganz klassisch vor Ort in ihrer Praxis. Mehr Infos finden Sie hier: www.vorwärtsleben.de

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