„Lassen Sie Ihre Titel beiseite, alles, worüber Sie sich sonst definieren“, sagt unsere Gastgeberin. „Können wir an diesem Ort einfach Menschen in der Gegenwart Gottes sein?“

 

Ich befinde mich in einem Raum mit Pastoren und Leitern aus ganz Nordamerika. Ich stehe am Rand und habe einen Kaffee in der Hand. Halte ihn direkt vor mich wie einen Schild. Ohne den Panzer meines Titels und meines Lebenslaufs fühle ich mich ziemlich verletzlich. Wenn die Tasse groß genug ist, kann ich mich vielleicht dahinter verstecken. Soll ich Blickkontakt herstellen? Lächeln? Ich fühle mich wie ein unbeholfener Teenager, der beim Abschlussball in der Ecke steht. Hm, vielleicht braucht das Serviceteam Hilfe beim Wegräumen von Kaffee und Snacks? Oder vielleicht gehe ich einfach an meinen Platz und sortiere meine Papiere und Notizbücher …

 

Die Stimme

Ich bin schüchtern. Manchmal ganz extrem. Aber ich möchte auch gesehen werden. Ich möchte, dass jeder weiß, was für eine wunderbare, einzigartige Person ich bin. Ich bin besonders! Sogar entzückend! Ihr solltet mich kennenlernen! Wie der Esel im Film Shrek hüpft mein Inneres auf und ab und plärrt: „Nimm mich! Nimm mich!“

 

Ich bin schüchtern. Manchmal ganz extrem. Aber ich möchte auch gesehen werden. Ich möchte, dass jeder weiß, was für eine wunderbare, einzigartige Person ich bin.

Mit der Zeit sind mir die Ausformungen dieser speziellen Neurose bewusst geworden, deshalb bemerke ich sie schnell und widerstehe ihr. Aber sie ist hartnäckig und kommt immer wieder. „Leiter. Viele Leiter! Vielleicht neue Freunde? Vielleicht wichtige Kontakte?“, flüstern sie.

 

Warum macht mir das immer noch etwas aus? Ich bin erwachsen, zum Kuckuck! Doch diese Situation tut mir fast körperlich weh – ich fühle mich innerlich ausgelaugt. Dünnhäutig und verletzlich in meiner Einsamkeit und meinem Bedürfnis nach menschlicher Verbundenheit und Bestätigung. Meinem Bedürfnis, gesehen zu werden. Mit einem Mal bricht eine klare und liebevolle Stimme in mein Bewusstsein. Die Stimme.

 

Ich sehe dich. Meine Augen ruhen auf dir.

 

Ein stilles, beruhigendes Wort. Frieden breitet sich in mir aus.

 

Ich sehe dich. Meine Augen ruhen auf dir.

 

Es ist ein heiliger Augenblick. Noch Jahre später spüre ich ihn körperlich mit der gleichen Stärke und Intensität. „Du bist ein Gott, der mich sieht“, sagt Hagar in der Wüste (1. Mose 16,13) – und Jill im Kloster bei einem Leiterschaftstraining.

 

Ein Wort von Gott verändert alles, und diese kurze Begegnung gestaltet mein Inneres um. Verändert radikal und dauerhaft, wie ich in dieser Art von sozialen Situationen reagiere. Wenn ich mich heute in einer Gruppe von Unbekannten befinde, bete ich: „Herr, verberge mich vor denen, vor denen ich verborgen sein soll. Zeige mich denen, mit denen ich in Kontakt treten soll.“

 

Verschwunden ist das verzweifelte Bemühen darum, unbedingt gesehen zu werden. Ich vertraue darauf, dass die Verbindungen, die entstehen, auch sein sollen. Und ich werde nicht nervös, wenn ich übersehen und ignoriert werde (so wie es etwas fülligeren mittelalten Frauen schon mal passieren kann).

 

Gotteswort aus Menschenmund

Einige Jahre zuvor sitze ich einem meiner Mentoren in einem Restaurant in Kansas City gegenüber. Ich kämpfe gerade damit, wie genau sich meine Berufung gestalten soll. Eine Gemeinschaft von Betern vor Ort aufzubauen, ist ein Teil davon, aber mein Einflussbereich und meine Reichweite nehmen zu und ich bin nicht sicher, wie ich mit Gottes Einladung, den größeren Raum einzunehmen, umgehen soll. „Denk doch einfach mal so darüber: Im Grunde fliegst du von einem Gebetshaus zum nächsten“, sagt er. „Du schaust vorbei und sammelst Süße bei dem einen ein, um sie zu einem anderen zu bringen – Kreuzbestäubung! Du bist eine Honigbiene!“

 

Honigbiene.

 

Das Wort drückt ganz viel Zuneigung aus. Es ist einer dieser Momente, wo sich die Lippen von jemandem bewegen, aber eigentlich Gott spricht. Ich kann das Lächeln in seinen Augen sehen. Die Zärtlichkeit in seiner Stimme hören. Ich fühle mich, als wäre ich ungefähr fünf Jahre alt und er hätte mich gerade auf seinen Schoß gesetzt.

 

Das sind die zutiefst wegweisenden Momente, wo ich gesehen werde. Gesegnet. Geprägt und geformt von seinem Wort.

Ein Wort von Gott verändert alles, und diese kurze Begegnung gestaltet mein Inneres um. Verändert radikal und dauerhaft.

Am Anfang sagte Gott: „Es werde Jill“, und dann wurde Jill. Er spricht mich ins Leben. Das Geschenk steckt in einem kleinen, festen, braunen Umschlag, eng umwickelt mit einer gelben, schimmernden Schnur. „Ich möchte dabei sein, wenn du es aufmachst“, sagt meine Tochter Hannah. „Aber lies zuerst die Karte.“

 

Sie ist selbstgemacht, so wie jedes Jahr. Ich habe sie alle aufgehoben und dort verstaut, wo ich meine Schätze verstecke. Vorne drauf befindet sich die detailreiche Zeichnung einer Honigbiene. „Ich finde, du bist köstlich süß“, steht da. „Denk immer daran, wer du in Gottes Augen bist.“ Ich löse die Schnur und ziehe eine Kette hervor. Es ist ein Anhänger in Form einer Honigwabe, der an einem schwarzen Band hängt. In der Wabe befindet sich ein kleines, nur verschwommen sichtbares Insekt, das von Glas umschlossen ist.

 

„Eine Honigbiene!“ Ich schließe meine Hand um den Anhänger und halte ihn fest. Bei der Berührung fühlt er sich warm an. Ich brumme und summe. Meine Augen werden feucht und ich schließe sie für einen Moment. Sie sieht mich.

 

Ich denke an eine Geschichte im ersten Kapitel des Lukasevangeliums – die von Maria und Elisabeth. Nachdem Maria Gott ein „gefährliches Ja“ gegeben hat, wird sie schwanger und sucht Zuflucht und Unterstützung bei einer ihrer Verwandten (Lukas 1,39–45).


Ich stelle mir die Szene vor. Maria ist vorsichtig, zögerlich. Wird sie willkommen sein? Ihre Hand liegt schützend auf ihrer noch schlanken Taille, während sie vor dem Haus ihrer Cousine steht. Sie möchte sich verstecken und sie möchte gesehen werden. Wird sie hier sicher sein?

Der Moment, in dem sie sich begegnen, ist ein heiliger. Selbst hochschwanger, muss Elisabeth erst einmal tief Luft holen, als sie mit dem Heiligen Geist erfüllt wird. Das Baby hüpft ein akrobatisches Amen in ihr. Irgendwie erkennt Elisabeth, dass sie gerade Zeugin eines Wunders wird. Maria trägt einen verborgenen Schatz in sich.

 

„Du bist von Gott gesegnet!“, ruft Elisabeth aus. „Und gesegnet ist auch dein Kind!“ (Lukas 1,42)

Ich sehe dich, Maria. Meine Augen ruhen auf dir. Ihr verborgenes Ja und ihr geheimer Schatz werden gesehen, gesegnet und bestätigt. Maria ist in Sicherheit. Gesehen und erkannt. Beim Namen genannt.

 

Doch dabei bleibt es nicht. Maria trägt nämlich nicht nur ein Kind in sich, sondern auch eine Melodie. Als sie in Sicherheit ist, als das verborgene Werk Gottes in ihr erkannt wird, als sie gesegnet und bestätigt wird – da, und erst da, bricht die Melodie ihres Herzens, das Lied ihres Lebens hervor (Lukas 1,46–55). Sie singt wie ein Spatz in Gottes Hand – und seit 2000 Jahren freuen wir uns daran.

EINLADUNG: EIN NEUER NAME

Denken Sie an eine Zeit, in der Sie sich sicher gefühlt haben. Als Gottes verborgenes Werk in Ihnen gesehen wurde. Als Sie gesegnet und bestätigt wurden. Geben Sie Gott diesen Augenblick und diese Situation mit Dank zurück.

 

Gott gibt in der Bibel Menschen häufig neue Namen, die im Kern ausdrücken, wer sie sind und wer sie werden sollen. Abram wird Abraham – Vater vieler Völker (1. Mose 17,5). Jakob wird Israel – einer, der mit Gott und Menschen gekämpft und gesiegt hat (1. Mose 32,28). Simon erhält den neuen Namen Petrus, der Fels (Matthäus 16,18). Und in Offenbarung 2,17 heißt es, dass manche einen neuen Namen erhalten werden, den nur der kennt, der ihn erhält.

 

Hat Gott Ihnen schon einmal einen ganz persönlichen Namen gegeben? Es kann sich um einen Spitznamen handeln, der Ausdruck seiner Zuneigung zu Ihnen und seinem Interesse an Ihnen ist („Hab also keine Angst, kleine Herde. Denn es macht eurem Vater große Freude, euch das Reich Gottes zu schenken.“ – Lukas 12,32). Vielleicht ist es ein Name, der Hinweise darauf enthält, wer Sie sind und zu wem Sie werden dürfen (wie Gideon, der in Richter 6,12 „tapferer Held“ genannt wird.)

 

Hier ist eine kreative Aufgabe für Sie: Legen Sie verschiedene Zeitschriften bereit. Fragen Sie Gott: „Wer sagst du, dass ich bin?“ Blättern Sie dann durch die Zeitschriften und schneiden Sie Bilder aus, die die Antwort auf diese Frage ausdrücken. Denken Sie nicht zu angestrengt nach, schauen Sie einfach, welche Bilder Sie ansprechen. Machen Sie dann eine Collage daraus. 

 

„Jesus,
danke, dass du der Urheber und Vollender meines Glaubens bist. Letztlich beginne und ende ich mit dir.
Du kennst mich. Du siehst mich. Du gibst mir einen Namen.
Ich empfange dein Wort für mich. Mir geschehe, wie du sagst.“

Der Artikel ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus Jill Webers Buch „Amen: Wie die Luft zum Atmen – Dein Weg ins Gebet und in die Gemeinschaft mit Gott“, das in diesen Tagen bei SCM R. Brockhaus erschienen ist. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

→ Hier geht’s zur Buchrezension von Andrea Specht

JILL WEBER

ist Autorin und Sprecherin und Gebets-Pionierin. 2001 gründete sie das „Greater Ontario House of Prayer“ in einem kleinen Wohnwagen, das sie 17 Jahre lang leitete. Seit 2018 lebt Jill mit ihrer Familie in Großbritannien, wo sie Teil der Leiterschaft der internationalen 24/7-Bewegung ist sowie als „Director of Spiritual Formation“ in der „Emmaus Road Church“ in Guildford wirkt. 

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