Stolpern, fallen, aufschlagen, heulen – bis ich etwa sieben oder acht war gehörte das zu meinem ganz normalen Alltag. Irgendwie lief ich immer zu schnell oder ich übersah einen herumliegenden Ast oder ein Schlagloch oder hatte einfach einen Schnürsenkel offen (und nicht selten auch alles zusammen). Knie ohne Pflaster? Die konnte ich mir gar nicht vorstellen! Weshalb mich, wann immer ich krusten- und narbenfreie Beine bei einer Freundin entdeckte, eine Mischung aus Ehrfurcht und Neid packte: Wie macht die das bloß – laufen ohne zu fallen?

 

Doch abgesehen von den Pflastern und unschönen Narben, hatte das Hinfallen auch seine guten Seiten: Zu erleben, wie Mama oder Papa angerannt kamen, sobald ich sirenenartig aufheulte, zu spüren, wie sie mich in ihren Armen wiegten und trösteten und pusteten, was das Zeug hielt, und nicht zuletzt das obligatorische Trost-Eis – das hatte schon was! Selten fühlte ich mich geliebter und mitten im Schmerz seltsam selig und geborgen.

 

Von allem zu viel zu wenig

Stolpern, fallen, aufschlagen, heulen – mit 40 hatte ich einen Sturz der ganz anderen Art zu verwinden. Doch leider halfen ein simples Pflaster und ein Eis dieses Mal nicht weiter.

 

Ich saß beim Arzt. Bleich und schwindelig. Ängstlich und fahrig. Schlaflos und gleichzeitig bleimüde. Viele Tage und sorgenvolle Gesichter von Familie und Freunden und noch mehr medizinische Untersuchungen später war klar: Ich war aus dem Gleichgewicht geraten, hatte den Tritt verloren – und zwar wortwörtlich. Und das nicht bloß auf einer, sondern auf so ziemlich allen Ebenen. Körper und Seele forderten plötzlich ihr Recht und zeigten mir die Rote Karte! Denn schon viel zu lange hatte es in meinem Leben so ziemlich von allem zu viel gegeben: Zu viel Arbeit, zu viel Stress, zu viele Ehrenämter, zu viele Sorgen. Und gleichzeitig von allem zu wenig: Zu wenig Freizeit, zu wenig Muße, zu wenig Schlaf, zu wenig Gelassenheit.

Körper und Seele forderten plötzlich ihr Recht und zeigten mir die Rote Karte!

Die Diagnose „Burn-out“ inklusive einer handfesten Panikstörung und einer mittelgradigen Depression knallte wie der sprichwörtliche Hammer auf mich nieder! Nicht, dass es mir peinlich gewesen wäre, mit einem Mal in die große Schublade derer mit psychischen Erkrankungen gesteckt zu werden – nein, mein größtes Problem war der Gedanke, dass ich wider besseres Wissen dort gelandet war (dachte ich zumindest)! Hatte ich in all den Jahren als Redakteurin eines christlichen Ratgebermagazins nicht Berge von Büchern zum Thema „Stress-Management“ gelesen und mit unzähligen Experten die Faktoren für eine gesunde Lebensführung erörtert? Und hatte ich mir nicht angemaßt, anderen in Artikeln Ratschläge zu erteilen wie sie (natürlich mit Gottes Hilfe!) zu einer besseren Balance, zu mehr Ausgeglichenheit, zu mehr Glauben, zu mehr Blablabla … finden könnten?

 

„Wie kann es sein“, fragte ich meinen Arzt in einer Mischung aus verletzter Eitelkeit und echter Sprachlosigkeit, „dass einer wie mir, die es besser hätte wissen müssen, so etwas passiert?“ Er sah mich überrascht an. „Frau Müller, ganz einfach: Weil Sie ein Mensch sind! Und weil Menschen Fehler machen.“

 

Ach ja, Menschen machen Fehler – hätte ich fast vergessen! Leider passte das nur so gar nicht in das Bild, das ich von mir als starker Frau und Christin hatte oder zumindest haben wollte. Kleinere Patzer, kein Problem, ich bin ja schließlich nicht Jesus! Aber folgenschwere Entgleisungen, die passieren doch bloß den anderen! Richtig echte Christen sind starke Menschen, sind stressfreie Menschen, sind stets fröhliche Menschen … ähm, steht das so nicht in der Bibel? – Es ist schon seltsam, wie einst gute Absichten („Ich wünsche mir, dass mein Glaube mich zum Guten verändert“) unter der Hand unbewusst zu frommem Perfektionismus verkommen können („Ich darf nichts mehr falsch machen!“).

 

Panikattacken und andere Unpässlichkeiten

Schwer zu sagen, was mir in den darauffolgenden Monaten mehr zu schaffen machte: die unangenehmen körperlichen und psychischen Ausfälle, mein angenagtes Ego oder mein schlechtes Gewissen: „Wenn du dir nur mehr Zeit für die Stille genommen hättest … Wenn du deinen Körper besser behandelt hättest … Wenn du mehr auf Gottes statt auf deine Kraft gebaut hättest … Wenn du mehr gelebt hättest, was du anderen so vollmundig geraten hast – dann wäre das alles nicht passiert!“ Mein innerer Richter war gnadenlos und ließ mir keine Atempause.

 

Um ihm zu entkommen, tat ich, was ich tun zu gewohnt war: ich arbeitete. Nicht im Büro, aber an mir. Ich erstellte To-do-Listen (die hatten in der Vergangenheit schließlich noch jedes Chaos geordnet) mit allem, was mir helfen würde, diese dumme Unpässlichkeit möglichst schnell hinter mir zu lassen. Wäre doch gelacht, wenn sich das nicht Punkt für Punkt abarbeiten ließe! Widerwillig aber brav nahm ich also meine Antidepressiva, schlief nach Jahren endlich noch einmal länger als sechs Stunden, machte täglich ausgiebige Spaziergänge und kaufte mir einen Hund.

 

Und – ich ging zu Gott. Das heißt, ich versuchte es. Denn ehrlich gesagt, half mir der Gedanke, „allezeit“ mit „allen meinen Lasten“ zu meinem himmlischen Vater gehen zu können, jetzt gerade nicht wirklich weiter. „Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“ war immer einer meiner Lieblingsverse gewesen. Was aber, wenn die Scham größer ist als die Zuversicht und einem schlicht die Kraft zum Hinzutreten fehlt? Was, wenn man mit aufgeschlagenen Knien daliegt und nicht mehr aufstehen, geschweige denn laufen kann?

 

Nichts als Liebe

In einer jener Nächte, in der ich mal wieder wach lag und mich hin und her wälzte zwischen Selbstmitleid und Schwächegefühlen und der ganzen Wut auf mich (weil ich es hätte verhindern müssen!) und auf Gott (weil er es hätte verhindern können!) und auf die ganze Welt (die sowieso die größte Schuld an allem trug!), tat ich endlich, was ich längst hätte tun sollen: Ich vergaß meine To-do-Listen und mein ganzes christliches Erwachsenengetue und schrie nach meinem himmlischen Papa! „Herr, hier liegt deine Tochter … Und! Sie! Kann! Nicht! Mehr!“, schluchzte ich in mein Kissen und hoffte, dass Gott irgendwie zu mir kommen würde.

 

Und das tat er. Seine „Umarmung“ erreichte mich ein paar Tage später in Form einer E-Mail und bestand aus zwei Zeilen eines Liedes des christlichen Dichters Jochen Klepper, das mein Bruder seiner Mail angehängt hatte: „In jeder Nacht, die mich umfängt, darf ich in deine Arme fallen. Und du, der nichts als Liebe denkt, wachst über mir, wachst über allen“, stand dort, und die Liebe und Barmherzigkeit dieser Worte strömten wie Balsam über meine verwundete Seele und meinen erschöpften Körper.

Herr, hier liegt deine Tochter – und sie kann nicht mehr!

Fünfzehn Jahre sind seither vergangen. Vieles ist heil geworden, manche Grenze ist geblieben. Mittlerweile umarme ich die Angst, wenn sie kommt, wie einen nervigen, aber wohlmeinenden Freund, der mich daran erinnert, dass ich Körper, Seele und Geist gerade wieder mal zu viel zumute. Und der mir die Augen für die vielleicht größte Wahrheit geöffnet hat: dass Stärke eine Illusion ist, von der Gott uns befreien will. Wir sind schlicht nicht dafür geschaffen, es alleine zu schaffen. Nicht das Leben – und auch nicht den Glauben.

 

„Seht, welch eine Liebe uns der Vater erwiesen hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen!“, schrieb der Apostel Johannes in seinem ersten Brief und ganz so, als könne er es selbst nicht fassen, setzt er noch einmal nach und bekräftigt: „Und wir sind es!“ (1. Johannes 3,1). Wahrscheinlich hat er dabei nicht in erster Linie an die unschönen Seiten des Kindseins wie Laufen, Stolpern, Fallen, Aufschlagen und Heulen gedacht. Aber ich kann mich seither des Eindrucks nicht erwehren, dass auch die Stürze irgendwie zum „Kind Gottes sein“ dazugehören. Und vielleicht helfen sie uns mehr als alle theologischen Richtigkeiten zusammen, endlich jene Wahrheiten zu begreifen, die wir längst verstanden glaubten, und eine Gnade zu schmecken, die uns in der Tiefe verändert.

 

„Durch Stolpern kommt man bisweilen weiter“, glaubte Goethe. Und so paradox der Satz auch anmutet – ich glaube es auch. Denn abgesehen von ein paar unschönen Narben, hatte der Burn-out auch seine guten Seiten. Denn wenn ich von Zeit zu Zeit mal wieder stolpere und dann der, der „nichts als Liebe denkt“ angerannt kommt, um mich in seinen Armen zu wiegen und zu trösten und zu pusten, was das Zeug hält, dann ist das mit nichts zu vergleichen! Selten fühle ich mich geliebter. Und inmitten all meiner Grenzen seltsam selig und geborgen.

Sabine Müller

ist Redaktionsleiterin von MINDO und arbeitet als Texterin und Konzeptionerin.

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