Im Zusammenhang mit einem Bandscheibenvorfall vor zehn Jahren, kam es bei Debora Sommer zu Nervenschäden. Anfangs hoffte sie auf eine baldige Besserung und Behandlungsmöglichkeit – doch aus Wochen voller Schmerzen wurden Monate und schließlich Jahre. Ein Dauer-Ausnahmezustand, den die Theologin und Autorin als existenziell, zermürbend und isolierend erlebt hat. Und der auch ihren Glauben auf den Prüfstand stellte. Andrea Specht hat mit ihr gesprochen.

 

 

MINDO: Debora, wie geht es dir in deiner Schmerzsituation heute?

 

DEBORA SOMMER: Vor zweieinhalb Jahren hat endlich eine Schmerzbehandlung bei mir angeschlagen, der ich mich nun alle zwei bis drei Monate unterziehe. Für einige Wochen kann ich dann die Medikamente – die belastende Nebenwirkungen haben – reduzieren. Dann kann ich auch besser sitzen. Mein Jahr ist aber ein Auf und Ab von Phasen mit mehr Schmerzen, Behandlung, dann wieder weniger Schmerzen. Meinen Berufsalltag habe ich noch stärker auf Zuhause verlegt. Einen Teil meiner Lehrtätigkeit sowie meine Beratungen kann ich von zu Hause aus machen. Da kann ich mich zwischendurch auch mal hinlegen.

 

Ich habe mich an einen gewissen Schmerzpegel gewöhnt. An meinen guten Tagen empfinde ich mich teilweise als schmerzfrei, aber wenn ich mich auf den Schmerz konzentriere, ist er immer da. Meine Hauptaufgabe ist, meine Gedanken davon abzulenken. Wenn es im gewohnten Schmerzspektrum ist, kann ich so damit umgehen, dass es meinen Alltag und mein Denken wenig einschränkt. Schwierig wird es, wenn es mir zusätzlich psychisch nicht gutgeht. Wenn es mich wieder so zermürbt, alles übermächtig wird, keine Ermutigung greift und ich mich seelisch und geistlich kraftlos fühle. Anfangs dachte ich, die größte Herausforderung sei der Umgang mit dem Schmerz. Aber dann habe ich gemerkt, die größte Herausforderung ist, nicht aufzugeben. Dabei habe ich gelernt, dass es wichtig ist, die Traurigkeit und den Schmerz wirklich zuzulassen. Dann geht es mir meist schneller wieder besser, als wenn ich es verdränge.

 

 

Was gibt dir Kraft im Alltag?

 

SOMMER: Am meisten Kraft schöpfe ich, wenn ich neben meinen vielseitigen Tätigkeiten genügend Freiraum finde, bei mir selbst ankomme, gut herausspüre, was mir jetzt helfen könnte. Mitten am Tag ein heißes Bad nehmen, etwas lesen oder Musik hören, die mich inspiriert. Oder mich eine Weile ins Bett legen, einen Spaziergang machen oder an einen kleinen See in der Nähe fahren und meinen Gedanken nachgehen. Am wichtigsten aber ist für mich das Schreiben. Nicht immer habe ich genug Kraft dazu. Aber ich komme dem, was in mir vorgeht, oft erst auf die Spur, wenn ich es auf Papier bringe. Das ist dann Seelenhygiene und Loslassen, ein Zwiegespräch mit Gott.

 

Mit die kraftvollsten Zeiten der Stille sind, wenn ich einfach nur auf einem Stuhl sitze und mir bewusst mache, Jesus ist genau jetzt hier bei mir und seine Gegenwart wirkt wohltuend auf mich ein. Dann stelle ich mir vor: Er schenkt nicht nur Frieden, er ist der Friede in Person. Was auch immer er mir genau jetzt schenken möchte, nehme ich in Empfang.

 

 

Wie hat dieses Jahrzehnt chronischer Schmerzerfahrung deine Gottesbeziehung geprägt und verändert?

 

SOMMER: Ich hatte vorher schon eine sehr starke, persönliche Gottesbeziehung, aber sie wurde enorm auf den Prüfstand gestellt. Gerade in den ersten Monaten habe ich wirklich gezweifelt: Ist Jesus noch mein Verbündeter? Wieso lässt er das jetzt zu? Ich habe die Situation als komplette Lebens-Überforderung erlebt. Dazu das ganze Dilemma: Du gibst alles, zu glauben, vertraust darauf, dass Heilung geschieht. Menschen, die schon viele Heilungswunder erlebt haben, kommen und beten mit dir – und bei dir geschieht nichts, zumindest nichts Sichtbares, dann fragst du dich schon: Was mache ich falsch?

Gerade in den ersten Monaten habe ich wirklich gezweifelt: Ist Jesus noch mein Verbündeter? Wieso lässt er das jetzt zu?

Es hat mir aber auch gezeigt, dass ich mit vielen geistlichen Worthülsen unterwegs war – zum Beispiel Wunder, Vertrauen, Segen. Die haben bis dahin gut funktioniert, sind dann aber auf ernüchternde Weise aufgebrochen. Ich musste vieles von Grund auf neu durchbuchstabieren. Im Nachhinein betrachtet, war das eine wertvolle Lektion: Welche geistlichen Wahrheiten sprichst du einfach nach – und was ist existenziell von dir gefüllt, von dir im Glauben erkämpft? Ich fühlte mich schlecht, weil sich mein Glaube als weniger tragfähig entpuppte, als ich bisher angenommen hatte. Gleichzeitig habe ich eine große Barmherzigkeit für Menschen entwickelt, die in extremen Situationen Schiffbruch erleiden. Persönlich oder im Glauben oder psychisch. Dass ich heute an diesem Punkt bin, nicht zerbrochen bin, ist viel Gnade.

 

 

Was hat dir denn geholfen, nicht zu zerbrechen?

 

SOMMER: Ein Wendepunkt war, als ich angefangen habe, meine Gefühle sehr ernstzunehmen. Das war der Start in einen Trauerprozess. Zuvor habe ich fast nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft gelebt: Wehmut über das, was nicht mehr ist, und ein verzweifeltes Hoffen auf das, was vielleicht bald kommt. Der gegenwärtige Zustand schien mir wenig lebenswert. Doch der heilsame Weg in die Zukunft liegt genau darin, dass ich den jetzigen Moment und all die Gefühle, die da sind, ganz ernstnehme und ins Gespräch mit Gott nehmen darf. In aller Ungefiltertheit – auch meine Enttäuschung, meine Frustration, meine Traurigkeit. Es gab eine Phase, da halfen mir Psalmen, überhaupt Worte zu finden. Und vor Gott zu klagen: „Ich verstehe das nicht! Ich fühle mich von dir im Stich gelassen! Wieso mutest du mir das zu?“ Die Gefühle in Worte zu fassen, war sehr wichtig.

 

Und dann war da das Singen. Es war eine Entscheidung von mir, Gott wieder Lieder zu singen, ihn anzubeten, obwohl sich alles in mir sträubte. Das Geheimnis des Lobopfers zu erleben, wie es Psalm 50 beschreibt, war für mich ein Durchbruch. Als ich mehrere Monate nach der Operation ein paar Akkorde am Klavier spielte, war es, als ob sich Schleusen in mir öffneten. Schluchzend saß ich da und durfte auf besondere Weise erfahren, wie Gott durch die Musik heilsam an meinem zunehmend verbitterten Herz wirkte.

 

Und natürlich hätte ich es nicht ohne die Unterstützung meines Mannes, meiner Familie und von Freunden geschafft. Auch wenn es insgesamt sehr spannungsvoll war, und für unsere Ehe eine enorm große Zerreißprobe bedeutete. Ich kann aber heute sehen, dass alle versucht haben, ihr Bestes zu  geben. Ich musste die Erwartungen loslassen, dass Menschen meine Situation richtig auffangen, Verständnis haben, genau die richtigen Worte wählen und das Richtige tun. Ich spürte, dass ich ganz tief in meinem Innern die Hilfe brauche, die mir kein Mensch geben kann. Es ist ein einsamer Weg, den ich mutig und allein mit Gott durchkämpfen muss.

 

 

Du hast gerade davon gesprochen, dass Menschen unterstützen wollten, aber dass Hilfe manchmal gar nicht hilfreich war. Was hättest du gebraucht?

 

SOMMER: Man fühlt sich ja so einsam, weil niemand wirklich wissen kann, was du gerade erlebst. Und doch sehnt man sich genau in diesen Momenten zutiefst danach zu spüren, dass man nicht allein ist. Diesem Dilemma zu begegnen ist herausfordernd, weil wir so verschieden sind. Als introvertierte Person verkrieche ich mich in mein Schneckenhaus, wenn es mir nicht gutgeht. Es wird zu einer großen Hürde, mich anderen zuzumuten. Wenn jemand zu mir sagt: „Soll ich dich besuchen? Können wir darüber sprechen?“, dann wäre das in gewissen Momenten für mich eine komplette Überforderung. Ich weiß aber, dass es extravertierte Menschen gibt, die sich genau das wünschen.

 

Bei praktischer Unterstützung empfand ich sehr hilfreich, wenn jemand ganz konkret seine Hilfe angeboten hat: „Ich hole eure Wäsche und bringe sie gewaschen zurück.“ Oder wenn jemand auf eigene Initiative Essen vorbeigebracht hat. Oder einen lieben Gruß geschickt hat, einen Blumenstrauß. Da wusste ich: „Da denkt jemand an mich!“

 

 

Warum wird so wenig über Schmerz und Leid gesprochen? Ist es Scham?

 

SOMMER: Es braucht einen geschützten Rahmen des Vertrauens, dass du wagst, deine Verletzlichkeit in Worte zu fassen. Dass ich in den ersten Wochen und Monaten meiner Schmerzerfahrung kaum darüber gesprochen habe, war auch Ausdruck davon, dass ich gar nicht wusste, was ich überhaupt sagen soll und was da in mir vor sich geht. Es kann auch Angst vor einer verletzenden Reaktion mitschwingen: Du wagst es, dein Herz zu öffnen und etwas preiszugeben, und dein Gegenüber kann nicht oder nur sehr schlecht damit umgehen. Dann fühlst du dich noch einsamer als zuvor. Und oft kommt auch Scham dazu.

Scham habe ich in christlichen Kontexten mehr beobachtet als anderswo. Scham darüber, dass man sein Leben im Vergleich mit anderen scheinbar nicht im Griff hat.

Hast du den Eindruck, dass Christen anders damit umgehen als Menschen, die nicht an Gott glauben?

 

SOMMER: Scham habe ich in christlichen Kontexten mehr beobachtet als anderswo. Scham darüber, dass man sein Leben im Vergleich mit anderen Christen scheinbar nicht im Griff hat. Scham über persönliche Traurigkeit oder Glaubenszweifel. Im Extremfall reißt man sich zusammen, spielt einander heiles Leben vor, spricht über Oberflächlichkeiten und jeder geht einsam wieder nach Hause. Doch die Scham ist meistens ungerechtfertigt. Da stecken falsche Selbstbilder und falsche Gottesbilder dahinter, hier sollten wir in eine andere Freiheit hineinkommen. Ich wünschte mir, dass in christlichen Gemeinschaften viel mehr Raum da wäre für ehrliches Lebenteilen. Masken weg, Verletzlichkeit wagen. Erst dort können wir uns von Herz zu Herz miteinander verbinden.

 

 

Wie hat dich die Schmerzerfahrung verändert?

 

SOMMER: Meine kostbarste Perle ist, dass ich eine ganz neue Beziehung zu dem Thema „Dunkelheit“ bekommen habe. Dass es nicht bedeutet, dass Licht ein Ort der Gottesnähe ist und Dunkelheit ein Ort der Gottesferne. In der Bibel gibt es eine Art „heilige Dunkelheit“, Zeiten, in denen Gott in der Tiefe und im Verborgenen an deinem Herzen wirken möchte. Die Frage ist nur: Bist du bereit, dich dieser Situation zu stellen oder willst du davonlaufen? Lange wollte ich nur davonlaufen.

 

Dann die Frage: Was macht Leben lebenswert? Es ist das, was der Schöpfer mir im Hier und Jetzt in dem Moment zuspricht. Dass er mir diese Würde gibt, dass ich in seinem Bild geschaffen bin, dass ich seine Tochter bin, die er liebt. Das ist es, was mein Leben lebenswert macht. Für mich ist gar nicht mehr so relevant, was morgen sein wird oder in einem Monat oder in einem Jahr – weil ich darauf vertraue, dass ich so, wie es ist, gehalten und getragen bin.

 

Und die Erkenntnis: Ich bin von Gott geliebt und gehalten – ganz unabhängig davon, was ich tue und leiste. Gottes größte Sehnsucht ist, dass wir seine Nähe suchen. Als gar nichts mehr ging, musste und durfte ich das lernen und so meine Identität ganz neu definieren.

 

 

Du hast vor wenigen Tagen mit „Halt finden“ ein Buch über deine chronische Schmerzerfahrung veröffentlicht. Was hat dich immer wieder motiviert – angesichts der großen Verletzlichkeit, die du wagst?

 

SOMMER: Ein Teil meines Auftrags ist, dass ich Menschen eine Stimme gebe, die oft missverstanden werden oder kaum sichtbar sind. Seien es Introvertierte, Hochsensible oder Schmerzpatienten. Deshalb habe ich das Buch jetzt geschrieben, während ich mittendrin bin. Als Betroffene möchte ich anderen Betroffenen Mut zusprechen. Es ist meine Sehnsucht, Menschen, die keine Kraft mehr haben, die alles Mögliche versucht haben, denen man auch noch fromme Lasten auferlegt, Zuspruch und Entlastung zu schenken. Sie aber auch ermutigen, ihr Vertrauen weiter auf den zu setzen, dem nichts unmöglich ist.

Und darüber hinaus möchte ich, dass man Betroffene in ihrer Sprachunfähigkeit und in ihrem Leiden besser sieht. Es ist ein Ringen darum, dass wir heilsamere Umgangswege finden und auch unserem Scheitern, Schmerz und Leid transparenter Raum geben. Indem ich mein Herz öffne, hoffe ich, dass sich auch andere Herzen öffnen.

 

 

Liebe Debora, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Das Interview führte Andrea Specht.

 

 

WEITERLESEN: → Hier geht es zur Rezension von „Halt finden“

 

 

DR. DEBORA SOMMER

ist Dozentin am Theologischen Seminar St. Chrischona, Referentin, Autorin und Menschenbegleiterin. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei jungen Erwachsenen und lebt in der Schweiz. Anfang März ist ihr Buch „Halt finden – Wenn der Körper schmerzt und die Seele weint“ erschienen (Francke-Buch), in dem sie in 52 Lektionen ungeschönt und ehrlich Erlebnissplitter eines ganzen Jahrzehnts teilt. 

 

Mehr unter: www.deborasommer.com

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