Schon als Kind wird uns beigebracht, dass man Menschen eine zweite Chance geben sollte. Und wenn eine Situation, beispielsweise eine Prüfung, richtig doof abläuft, dann wird uns gesagt, dass es beim nächsten Mal ganz anders laufen kann – besser!
Die Art und Weise, wie wir über etwas denken, hat Auswirkungen darauf, wie wir es erleben. Konkret bedeutet das: Wenn wir Negatives erwarten, werden wir unsere inneren Antennen nach genau diesem Negativen ausrichten und es mit großer Sicherheit auch entdecken. Damit bestätigt sich, was wir schon immer „wussten“. Oder sollte man besser sagen: Wir sorgen dafür, dass sich unsere Annahmen bestätigen?
Einmal vorspulen, bitte!?
Der Herbst hat Einzug gehalten, der Winter steht in den Startlöchern. Für viele Menschen eine verhasste Zeit. Der Herbst ist „dunkel, nass und kalt“, so ihre feste Überzeugung. Ginge es nach ihnen, würden sie die Vorspultaste drücken, bis sie im Frühling angekommen sind. Oder im Sommer. Nur leider ist das nicht möglich. Wie also geht man am besten mit so einer Tatsache wie „Man kann den Herbst nicht einfach überspringen!“ um?
Wie wäre es, wenn man auch Jahreszeiten wie dem Herbst eine zweite Chance einräumen würde? Ich muss an Dominique denken. Sie gehört zu denjenigen, die den Herbst am liebsten ausfallen lassen und direkt im Advent weitermachen würden, wenn das ginge. Sie ist eine Herbst-Hasserin. Neulich aber sagte sie etwas, das mich aufhorchen ließ: Als sie noch jünger war, da hat sie den Herbst geliebt! Sie erzählte von den sich von Tag zu Tag mehr verfärbenden Blättern an den Bäumen, von Treffen mit Freunden bei heißem Kakao, gemütlichen Leseabenden bei Kerzenschein auf dem Sofa u. v. m. Was hat sich nur verändert? Ganz einfach: ihre Lebensumstände.
Wir alle haben Dinge, die wir gedanklich abgehakt haben – in eine Schublade gesteckt, abgeschlossen und den Schlüssel verlegt.
Dominique arbeitet mittlerweile selbstständig von zu Hause aus. Dadurch fällt der tägliche Weg zur Arbeit weg, bei dem sie früher ganz automatisch das farbenfrohe Laub bestaunen konnte. Den Kakao habe sie für sich gestrichen, berichtet sie – zu viele Kalorien, wo sie doch so zugenommen hat in den letzten Jahren. Stundenlanges Lesen ohne Unterbrechung? Das gibt es seit sie Mutter ist quasi nicht mehr. Und wegen der Katze auch keine Kerzen, denn die findet sie extrem spannend und will immer damit spielen. Bevor die Katze also das Haus abfackelt, verzichtet Dominique lieber darauf.
Schubladen-Denken, ade!
Gemeinsam beschließen wir, dass auch so etwas wie der Herbst eine zweite Chance verdient hat. Dominiques Plan: regelmäßige Spaziergänge im nahegelegenen Wald an den Wochenenden und im Anschluss ab und an den Luxus einer Tasse heißen Kakaos. Dazu soll abends der Fernseher öfter mal ausbleiben, stattdessen wird gelesen, sobald ihre Kinder im Bett sind. Und da ihre Katze Teelichter im Glas totlangweilig findet, ist das ein guter Ersatz für normale Kerzen. Beim Gedanken an diesen Plan huscht Dominique bereits ein vorfreudiges Lächeln übers Gesicht. Herbst, das klingt plötzlich gar nicht mehr nur nach „dunkel, nass und kalt“, sondern mindestens genauso sehr nach „gemütlich und entspannend“.
Wir alle haben Dinge, die wir gedanklich abgehakt haben – in eine Schublade gesteckt, abgeschlossen und den Schlüssel verlegt. Vielleicht ist es dran, einige dieser Schubladen aufzubrechen und den Dingen darin eine zweite Chance zu geben. Nicht nur Menschen und Situationen, sondern auch Jahreszeiten und anderen Dingen.