MINDO: Herr Willberg, in den letzten Jahren beobachten Psychologen und Soziologen verstärkt das Phänomen einer „neuen Einsamkeit“, die in unserer Gesellschaft um sich greift, manch einer spricht gar von einer „Epidemie der Vereinsamung“. Vor allem in der Coronakrise geriet das Thema noch einmal ganz neu in den Fokus. Wie sieht es aus: Sind wir heute einsamer als vor der Pandemie?

 

DR. HANS-ARVED WILLBERG: Nun, es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig die Folgen des Vereinsamens durch die Isolationserfahrungen der Pandemie sein werden. Fest steht aber jetzt schon, dass viele Kinder schwere Einschränkungen ihrer natürlichen Entwicklung im sozialen Kontext erleiden mussten, die sich bereits vielfach auswirken und vermutlich auch langfristig zu weiteren Problemen führen werden. Insgesamt jedoch war die Pandemie nicht der große Einbruch des Vereinsamungsproblems im Unterschied zu früheren Zeiten. Im Bild gesprochen: Der kalte Fluss des Vereinsamens ist nicht zum Wasserfall geworden, aber die Pandemie hat ein Hochwasser erzeugt.

 

 

Laut Umfragen fühlten sich viele aber auch schon vor der Pandemie einsamer, als es offenbar die Generationen vor uns taten. Warum ist das so?

 

WILLBERG: Einsamkeit zu erfahren gehört zur Grundbefindlichkeit des Menschseins und es ist sehr schwer zu beurteilen, ob die Menschen dem früher stärker oder weniger stark ausgesetzt waren. Man könnte an die früheren Familienstrukturen denken, als Mehrgenerationen-Haushalte noch ganz normal waren und die sozialen Verpflichtungen viel stärker verbunden haben als heute. Aber es ist ein Irrtum zu denken, dass Kollektive allein dadurch vor leidvoller Einsamkeit bewahren, dass sie stattfinden. Es hat ohne jeden Zweifel in vergangenen Zeiten vor allem unendlich viele erniedrigte und entwürdigte Frauen geben, die entsetzlich unter Einsamkeit litten.

Der kalte Fluss des Vereinsamens ist nicht zum Wasserfall geworden, aber die Pandemie hat ein Hochwasser erzeugt.

Noch einmal zum Verständnis: Was unterscheidet Einsamkeit von Alleinsein?

 

WILLBERG: Zunächst einmal ist es ganz wichtig, genau zu differenzieren: Alleinsein ist ein rein sachlicher Begriff. Das heißt: Das Wort gibt keinen Hinweis darauf, wie es mir dabei geht. Bei „Einsamkeit“ hingegen schwingt Emotion mit: Wir denken daran, wie es sich anfühlt, einsam zu sein. Meist denken wir dabei an ein schmerzliches Gefühl. Aber vielleicht fällt uns ja auch der einsame Strand mit dem wunderbaren Sonnenuntergang ein, wo wir endlich mal wieder so ganz für uns sein konnten?

 

Wenn wir von Einsamkeit sprechen, meinen wir jedoch meistens jene Einsamkeit, die als Problem erlebt wird, genau genommen also „Vereinsamung“. Das Vereinsamungsproblem hat zwei Teilbereiche: die soziale und die emotionale Isolation. Soziale Isolation ist viel häufiger, die Statistiken gehen hier von 30 Prozent und mehr aus. Sozial isoliert zu sein für viele Menschen zwar sehr hart, aber nicht unbedingt überfordernd. Von emotionaler Isolation hingegen reden wir, wenn ein Mensch mit seiner Einsamkeit nicht zurechtkommt und daraus Teufelskreise werden, die das Problem noch weiter verschlimmern. Diese Form der Vereinsamung erleben ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung.

 

 

Bei Einsamkeit denkt man in der Regel zunächst an ältere Menschen. Doch laut aktueller Untersuchungen sind es gar nicht unbedingt Senioren, die sich einsam fühlen, sondern vor allem Jugendliche. Nach der Corona-Pandemie geben 35 Prozent 18- bis 25-Jährigen an, sie seien „sehr einsam“. Das überrascht, oder nicht?

 

WILLBERG: Die Kurve des Vereinsamungsproblems bildet einen langgestreckten Hügel bei den jüngeren Jahrgängen und senkt sich bei den Senioren zunächst zum Tal. Das liegt anscheinend vor allem daran, dass sehr viele Senioren unter günstigen Bedingungen Kompetenzen trainiert haben, mit dem Alleinsein gut zurechtzukommen und stabile soziale Netze zu knüpfen und zu pflegen. Bei den älteren Senioren steigt die Einsamkeitskurve dann jedoch oft wieder an.

 

Für die verstärkte Vereinsamung von Jugendlichen gibt es verschiedene Gründe. Ein Hauptfaktor ist die Ambivalenz der sogenannten sozialen Medien. Den virtuellen Verbindungen in diesem Netzwerk fehlt die Lebendigkeit echter zwischenmenschlicher Begegnungen und Beziehungen. Das Allermeiste ist zu oberflächlich und nicht verlässlich. Es gibt ein sehr informatives Buch der MIT-Professorin Sherry Turkle dazu, die seit Beginn der digitalen Ära untersucht, was der Computer und dann das Internet mit den Menschen macht. Es hat den Titel „Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern“. Darin geht es ganz überwiegend um das seelische Verkümmern junger Menschen. Es ist zu befürchten, dass wir erst am Anfang des Prozesses stehen. Hier wird man schon davon sprechen müssen, dass es durch die Pandemie eine Art Einbruch gegeben hat. Darin liegt jetzt aber auch eine Chance, denn das Problem war den Menschen zuvor noch nicht so bewusst.

 

 

Können die Schäden, die die Pandemie in Sachen Einsamkeit geschlagen hat, wieder heil werden?

 

WILLBERG: Die Spitzenreiter unter den überaus weit verbreiteten seelischen Störungen und Erkrankungen – Angstprobleme, Depressionen und Süchte –, haben zu einem sehr großen Teil mit erlittener Einsamkeit zu tun. Das kann in der Medizin und Psychotherapie, wo viele der Betroffenen ja über kurz oder lang eintreffen, noch viel stärker als bisher in den Blick genommen und therapeutisch angegangen werden. Es wird auch vorgeschlagen, die emotionale Isolation als eigenständiges Störungsbild zu kategorisieren. Das könnte hilfreich sein, weil dann auch die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen entwickelt würden. Aber es muss noch viel mehr geschehen. Vor allem kommt es darauf an, dass die Isolation der Betroffenen durch Initiative ihrer Mitmenschen durchbrochen wird.

 

 

Nun gibt es ja auch eher introvertierte Menschen, die ein gewissen Maß an Alleinsein, vielleicht sogar Einsamkeit brauchen, um überhaupt zu funktionieren. Andere wiederum brauchen das regelmäßige Bad in der Menge, um sich lebendig zu fühlen. Wann aber beginnt „gute Einsamkeit“ in „gefährliche Vereinsamung“ umzuschlagen?

 

WILLBERG: Ja, es kann hilfreich sein, grundsätzlich zwischen „guter“ und „schlechter“ Einsamkeit zu unterscheiden, wie es der norwegische Philosoph Lars Svendsen vorgeschlagen hat. Wir Menschen haben alle sowohl ein Bedürfnis nach Nähe als auch ein Bedürfnis nach Distanz, nur sind die Bedürfnisschwerpunkte verschieden: Du willst mehr Nähe, ich will mehr Distanz. Nähetypen müssen sich darin üben, sich mit Einsamkeitserfahrungen anzufreunden, Distanztypen müssen aufpassen, sich nicht zu sehr selbst zu isolieren.

Schlechte Einsamkeit ist Einsamkeit, die nicht mehr guttut. Gute Einsamkeit muss nicht schön sein, aber trotzdem ist sie gut, weil sie uns reifen lässt.

Schlechte Einsamkeit ist Einsamkeit, die nicht mehr guttut. Gute Einsamkeit muss nicht schön sein, aber trotzdem ist sie gut, weil sie uns reifen lässt. Alles gesunde Trauern ist eine schwere, gute Einsamkeitserfahrung. Warnsignale im Übergang von guter zu schlechter Einsamkeit sind alle möglichen Erfahrungen des Verlusts des seelischen Gleichgewichts: Das können anhaltende Verstimmungen sein, eskalierende Beziehungskonflikte, körperliche Symptome, aber auch Fluchtverhalten wie übertriebener Aktivismus, Arbeitssucht und dergleichen.

 

 

Was ist an Einsamkeit das Fatale? Oder genauer: Was macht anhaltende Vereinsamung mit uns?

 

WILLBERG: Soziale Isolation kann pathologische Folgen haben, emotionale Isolation hat sie unausweichlich! Die Risikofaktoren des Vereinsamens sind so hoch wie bei evident gesundheitsschädigendem Verhalten wie zum Beispiel dem Rauchen. Fatalerweise werden die Gesundheitsprobleme vereinsamter Menschen noch dadurch gesteigert, dass sie begreiflicherweise dazu neigen, sich selbst zu vernachlässigen und ihre Beziehungsdefizite durch gesundheitsschädigendes Verhalten wie Bewegungsmangel, Rauchen, zu viel Alkohol oder ungesundes und übermäßiges Essen zu kompensieren. Dieses hohe Gesundheitsrisiko durch Vereinsamung wird wohl der vorrangige Grund dafür sein, dass schon vor der Pandemie die Regierungen einiger Staaten und die Europäische Kommission das Thema in ihre Agenden aufgenommen haben. Nicht zuletzt ist der volkswirtschaftliche Schaden durch die Gesundheitsfolgen von Vereinsamung immens.

 

 

Sie erwähnten es gerade: Länder wie Japan und auch Großbritannien haben das Problem lange vor der Pandemie erkannt. Großbritannien hat 2018 gar ein Ministerium eingerichtet, das sich ausschließlich der Aufklärung rund um sowie der Bekämpfung von Einsamkeit widmet. Wäre das ein guter Schritt auch für Deutschland?

 

WILLBERG: Die deutsche Regierung der letzten Legislaturperiode ist in dieser Hinsicht erfreulich aktiv geworden. Grundsätzlich ist auch bei uns ein politisches Bewusstsein für das Problem entstanden und es wurde, gefördert und beauftragt von den entsprechenden Ministerien, viel dazu geforscht und veröffentlicht. Man wird aber befürchten müssen, dass durch die Priorität des Pandemie-Managements und nun auch durch die Dominanz des Ukraine-Kriegs und natürlich der Klimakrise das Thema erst einmal wieder in den Schubladen versinkt. Es gibt auch immer wieder Stimmen, die es verharmlosen. Das hängt mit der unscharfen Definition des Problems zusammen. Wie gesagt: Es trifft nicht zu, die Einsamkeit pauschal als Problem zu bezeichnen, von dem man geheilt oder befreit werden müsste. Es geht wie bereits erwähnt, um die pathologische Einsamkeit, also die Vereinsamung.

 

 

Was können die Kirchen und christlichen Gemeinschaften hier anbieten? Immerhin ist „Gemeinschaft“ ja einer der zentralen Werte im Christentum. Kurz gesagt: Haben Kirchen genau an dieser Stelle eine Kernkompetenz, die sie vielleicht noch gar nicht richtig ausfüllen?

 

WILLBERG: Eine groß angelegte Untersuchung, die sich über eine längere Phase der Pandemie erstreckte und damit auch die Zeit erfasste, als es wider Erwarten immer und immer noch nicht besser wurde, kam zu dem bedauerlichen Ergebnis, dass sich viele Menschen, die eigentlich eine Beziehung zur Kirche hatten, von den kirchlichen Institutionen und Amtspersonen im Stich gelassen fühlten. Die andere Seite der Enttäuschung war ein Rückgang der Glaubenszuversicht bei vielen glaubenden Menschen. Die Kirchengemeinden hatten sehr viel damit zu tun, ihre Veranstaltungen in digital aufbereiteter Weise fortzuführen und neu zu organisieren, aber der Seelsorge ist es insgesamt zu wenig gelungen, die Menschen in dieser schwierigen Zeit zu erreichen und zu stärken.

Nun sind die Kirchen auch ohne Pandemie in der Krise – doch Krisen sind bekanntlich Chancen: Ich glaube, dass sie nur dann eine gute Zukunft haben, wenn sie sich viel mehr als bisher auf diese Kernkompetenz besinnen, von der Sie sprechen. Kirche ist ihrem ursprünglichen und eigentlichen Wesen nach nicht eine Institution unter anderen wie zum Beispiel der Fußballverein, sondern vor allem bewusst gelebte Gemeinschaft als einladendes Zuhause für die Menschen, vor allem für die Vereinsamten.

Die Spitzenreiter unter den überaus weit verbreiteten seelischen Störungen und Erkrankungen, haben zu einem sehr großen Teil mit erlittener Einsamkeit zu tun.

Die diesjährige Jahreslosung lautet: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ist es das, was Gott auch uns zusagt, wenn wir einsam sind: dass wir nicht vergessen, sondern gesehen sind?

 

WILLBERG: Die schöne Jahreslosung entstammt ja der Hagar-Geschichte im ersten Buch Mose: Hagar ist die Sklavin Saras, der Frau von Abraham. Hagar flieht vor ihrer Herrschaft in die Wüste, weil sie es nicht mehr aushält. Dort begegnet ihr Gott und spricht sie an. Die Jahreslosung ist Hagars Antwort darauf. Ein paar Kapitel danach kommt die Fortsetzung: Hagar wird mit ihrem Sohn Ismael definitiv ausgestoßen, weil Sara sie nicht mehr duldet. Im Christentum erfolgte eine Neuinterpretation der Geschichte: Sie symbolisiere das verblendete Judentum, das nun von den Christen ausgestoßen werden solle. Diese radikale Sicht hat stark zum christlichen Antisemitismus beigetragen. Ein angesehener Theologe, Seelsorger der deutschen Armee bei Stalingrad, notierte den Bericht eines Soldaten in sein Tagebuch: Der war bei einer jüdischen Familie untergekommen und hatte der Tochter ein Neues Testament gegeben. Als die junge Frau es las, wurde sie sehr dadurch getröstet. Dann brachte man sie ins KZ. Der Seelsorger kommentierte die Geschichte sehr hart: Was sein müsse, das müsse sein, so sei das eben mit dem Fluch!

 

Warum erzähle ich das? Wir dürfen das ganz persönliche Trostwort der Jahreslosung nicht nur aus der Perspektive Hagars betrachten, sondern wir müssen auch die Systeme in den Blick nehmen, deren Opfer die vielen Hagars waren und sind. Auf der einen Seite ist die Ausgestoßene, auf der andern die Ausstoßenden. Dietrich Bonhoeffer hat damals gesagt: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Das heißt auch: Wer nicht gegen das Unrecht des Ausstoßens einschreitet, sollte sich lieber sehr zurückhalten mit Trostsprüchen für Einzelne, die dann doch Opfer des Systems bleiben. Das Vereinsamungsproblem ist zu einem sehr großen Teil eine Konsequenz der Vereisung des gesellschaftlichen Klimas. Und die Kirchen müssen sich selbstkritisch fragen, welche Rolle sie darin spielen.

 

 

Dennoch gilt wie bei so vielen anderen Herausforderungen auch hier: Am Ende ist sicher jede und jeder einzelne von uns gefragt. Wie also schafft man selbst Schritte heraus aus der Einsamkeit, zurück in die Gemeinschaft?

 

WILLBERG: Ich kenne das Problem der sozialen Isolation auch aus eigener Erfahrung sehr gut. Wenn der Sog in die emotionale Isolation hinein stark wird, erinnere ich mich an die Goldene Regel: „Was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihnen!“ Wenn ich also will, dass andere meine soziale Isolation durchbrechen, dann ist es das Beste, wenn ich sie selbst durchbreche:

Andere sollen sich um mich kümmern? – Ich kümmere mich um andere!

Andere sollen die ersten Schritte tun? – Also tue ich den ersten Schritt.

Denn es hilft mir nichts und es ändert nichts an meiner Lage, wenn ich mich als Opfer definiere, auch wenn ich es bin.

 

Der zweite Aspekt dabei ist die Akzeptanz der Einsamkeitserfahrung. Ich weiß sehr viel mit mir selbst anzufangen, wenn niemand sich um mich kümmert. Mir persönlich fällt das grundsätzlich leicht, andere müssen es erst lernen. Ich will also das Alleinsein, auch wenn es sich schmerzlich einsam anfühlt, als Gabe und Aufgabe verstehen. Das ist ein sehr guter Übungsweg.

 

 

Herr Willberg, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

Dr. Hans-Arved Willberg

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe und Philosoph. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e.V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig. Sein neuestes Buch „Einsamkeit und Vereinsamung“ erscheint im August 2023 bei Springer. 

 

www.isa-institut.de

 

 www.life-consult.org

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