Kaum ein Bibeltext bietet sich so überzeugend zur Charakterisierung sowohl einfühlsamer als widerständiger Seelsorge an wie der vom „Gottesknecht“ in Jesaja 50. Innerlich frei zu bleiben, um vorbehaltlos dienend die Nöte einer anderen Person aufzunehmen, verlangt Leidensbereitschaft, geistige Armut, Ehrlichkeit und Offenheit, Selbstbewusstsein sowie eine entschieden vertrauensbestimmte Vorstellung von Gott:

 

„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.“ (Jesaja 50,4–9)

 

 

Zu wissen, wie man mit „den Müden redet zu rechter Zeit“ und das mit „einer Zunge, wie sie Jünger haben“, wie es in Jesaja 50 heißt, ist eine schöne Umschreibung von Seelsorge. Aber diese Verse umschreiben nicht nur den Begriff, sie beschreiben auch die Voraussetzungen dafür, dass Seelsorge gelingt. Wenn ich ein Seelsorger sein will, brauche ich Folgendes:

 

→  Das Gespür für den rechten Zeitpunkt,

→  die stetige Übung des Hörens,

→  ehrliche Akzeptanz des eigenen Leidens,

→  selbstbewusste Wahrhaftigkeit und

→  das Vertrauen, dass Gott auf meiner Seite ist.

 

 

„Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen“, bezeugen wir in unserem Glaubensbekenntnis. Diese Gemeinschaft ist dann echt und überzeugend, wenn sie eine seelsorgerliche Gemeinschaft ist. Darunter ist das sogenannte „Priestertum aller Gläubigen“ zu verstehen. Der Text teilt uns mit, was wir brauchen, um im engeren wie auch im weiteren Sinn Seelsorger füreinander zu sein. Schauen wir uns an, was er im Einzelnen sagt.

 

1. Das Gespür für den rechten Zeitpunkt

„Er hat mir eine Zunge gegeben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden“: Die rechte Zeit finde ich nur, wenn ich auch die rechte Art erkenne. Kommunikationspsychologen unterscheiden verschiedene Situationstypen. Gelingende Kommunikation hängt davon ab, welche Art des Kommunizierens wir in einer bestimmten Situation wählen. Was ist angemessen für „die Müden“? Es mag, für sich genommen, inhaltlich ganz gut und richtig sein, was wir sagen, aber die Frage ist, ob es jetzt auch passt. Witze zu erzählen kann bei manchem Anlass die Gemeinschaft fördern, aber man braucht wirklich gute Gründe, das bei einer Trauerfeier zu tun. Sehr viel gut gemeinte Kommunikation misslingt, weil der Situationstyp nicht erfasst wird: „Was ist denn jetzt eigentlich dran: Soll ich meinem Gegenüber sachlich klar machen, was richtig ist, oder es sogar belehren und zurechtweisen?“ Manche Situationen erfordern das, in anderen ist das aber völlig unangebracht, weil es nicht darum geht, wer Recht hat und dass der andere etwas lernen soll, sondern weil persönliche und ehrliche Verständigung vonnöten ist. Das ist vor allem dann der Fall, wenn starke Gefühle im Spiel sind.

 

Wer ohne wirkliches Verständnis trösten und ermutigen will, nimmt den Entmutigten nicht ernst.

Was brauchen „die Müden“? Paulus differenziert zwischen drei Zielgruppen der Seelsorge: den Taktlosen, den Kleinmütigen und den Schwachen (1. Thessalonicher 5,14). Die Taktlosen soll man zurechtweisen, die Kleinmütigen trösten und die Schwachen tragen. „Die Müden“ sind die Kleinmütigen. Ihr Mut ist klein geworden. Sie brauchen Verständnis und Trost. Trost ist Ermutigung. Wer ohne wirkliches Verständnis trösten und ermutigen will, nimmt den Entmutigten nicht ernst. Er appelliert an ihn mit billigen Sprüchen. Der rechte Zeitpunkt stellt sich ein, wenn echtes Verständnis zustande gekommen ist. Das echte Verständnis ist die Frucht des echten Zuhörens. Wenn ich ein Seelsorger sein will, brauche ich die stetige Übung des Hörens.

 

2. Die stetige Übung des Hörens

„Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück“: Wenn ich dem andern zuhöre, achte ich zugleich auch auf das, was sich in mir bewegt. Ich horche hin, was die Stimme des Guten Hirten in diesem Moment sagt. Seine Stimme ist die Stimme des Herzens und diese Stimme redet Wahres, Konstruktives, Verständnisvolles, Barmherziges und Tröstliches. Ich kann nur hilfreich hören, was der andere sagt, wenn ich dabei, davor und danach beständig dieser inneren Stimme lausche. Sonst bleibt mein Hören taub. In der Übung des Hörens auf die innere Stimme öffnet Gott selbst mir das Gehör: meine Taubheit weicht allmählich. Was ich zu hören bekomme, wenn meine Taubheit weicht, erfordert Tapferkeit und Geduld.

 

Es ist so viel bequemer, wie die berühmten japanischen drei Affen nichts Beunruhigendes zu hören und zu sehen und dementsprechend auch den Mund zu halten. Aber dann höre ich auch die Stimme des Guten Hirten nicht mehr, denn der Gute Hirte ist der Barmherzige Samariter. Er sieht und hört das Leid, das ihm begegnet. Es geht ihm zu Herzen. Er weicht nicht aus.

Die Übung des Hörens wird schwer, wenn das, was wir zu hören und zu sehen bekommen, schwer wird. Wer mit dem Herzen hört und sieht, nimmt hinter den vielen Zahlen, hinter denen sich die Not von Menschen in den Nachrichten verbirgt, diese Menschen selbst wahr. Er weicht nicht aus. Die Not erreicht sein Herz.

 

 Foto: Anastasia Vityukova | unsplash.com

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Es ist aber auch so viel bequemer, uns dem eigenen Leiden gegenüber wie die drei Affen zu benehmen. Wer allerdings offene Ohren und Augen für die Nöte der anderen hat, kann sie auch vor den eigenen nicht verschließen. Wer trotzdem diesen Zwiespalt versucht, verhärtet sich. Das raubt der Nächstenliebe die Authentizität. Wenn ich ein Seelsorger sein will, brauche ich also auch die ehrliche Akzeptanz des eigenen Leidens.

 

3. Ehrliche Akzeptanz des eigenen Leidens

„Nun aber hat er mich müde gemacht und alles verstört, was um mich ist“, klagt Hiob, als seine falschen Freunde nicht ablassen, auf ihn einzureden, ohne sich in ihn einzufühlen. „Sein Grimm hat mich zerrissen, und er war mir feind; er knirschte mit den Zähnen gegen mich; mein Widersacher funkelt mich mit seinen Augen an“ (Hiob 16,9). Unser stärkstes menschliches Bedürfnis ist das nach Vertrauensbeziehungen zu anderen Menschen und zu Gott. Wir reagieren auf schwere und nachhaltige Enttäuschungen in dieser Hinsicht wie auf den Entzug eines Suchtstoffes. Damit erklären Hirnforscher zum Beispiel die Heftigkeit des Liebeskummers. Hiob liebt Gott, aber er muss erleben, dass Gott ihn verlassen hat. Am schlimmsten zeigt sich ihm das darin, wie seine Freunde mit ihm umgehen – seine engste geistliche Gemeinschaft! „Sie haben ihren Mund aufgesperrt wider mich“, fährt er fort, „und haben mich schmählich auf meine Backen geschlagen. Sie haben ihren Mut miteinander an mir gekühlt“ (Vers 10).

 

Unser stärkstes menschliches Bedürfnis ist das nach Vertrauensbeziehungen zu anderen Menschen und zu Gott.

„Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück“, sage ich tapfer, wenn ich ein Seelsorger sein und bleiben will. „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Wer Augen, Ohren und Mund verschließt, kann sich hinter seinem Panzer der Gleichgültigkeit gut vor Verletzungen schützen. Wer sich aber im achtsamen Sehen und Hören übt und den Mund aufmacht, um ehrlich von dem zu reden, was er sieht und hört, der macht sich verletzlich. Diesen Weg ist Jesus vorangegangen. Es ist sein Passionsweg.

 

Die Übung des Hörens wird zur Übung des Gehorsams, weil sie von uns fordert, dass wir uns der unbequemen Wirklichkeit stellen. Das unterscheidet Hiob von seinen Freunden: Sie machen sich etwas vor und überschlagen sich geradezu in ihren pathetischen Behauptungen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Hiob bezichtigen sie der Lüge. Aber es ist umgekehrt: Hiob sieht die Wirklichkeit so, wie sie ist. Darum klagt er. Wenn ich Seelsorger sein will, darf ich die Wirklichkeit nicht leugnen. Dazu brauche ich selbstbewusste Wahrhaftigkeit.

 

4. Selbstbewusste Wahrhaftigkeit

Wer sein Angesicht verbirgt, schaut weg. „Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg“, sagt Jesaja drei Kapitel später über den leidenden Gottesknecht. Hören und gehorchen heißt, sich der Verachtung zu stellen: „Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein“.

Es gibt eine Härte, mit der wir unser Angesicht verdecken: die Härte des Panzers. Dahinter verstecken wir unser wahres Gesicht. Es gibt aber auch die selbstbewusste Härte der Wahrhaftigkeit. Manchmal verlangt sie von uns, der Verachtung die Stirn zu bieten. In der Bergpredigt bezeichnet Jesus diese Haltung als Ausdruck der Liebe: „Wenn dich einer auf die eine Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“ Gib also dem Unrecht nicht nach, lass dich nicht auf faule Kompromisse ein. Stehe zu dem, was du erkannt hast, widersetze dich solidarisch der Verachtung, die andere erfahren, wie auch der eigenen!

 

Wenn ich der Stimme des Guten Hirten zuhöre, klärt und festigt sich mein Gerechtigkeitssinn. „Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!“

Das ist eine sehr selbstbewusste Aussage. Um Seelsorger zu sein und zu bleiben, gilt es sich die eigenen berechtigten Ansprüche zu vergegenwärtigen. Dazu brauche ich das Vertrauen, dass Gott auf meiner Seite ist.

 

5. Das Vertrauen, dass Gott auf meiner Seite ist

Die Selbstgerechten prahlen damit zu jeder Zeit. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass Gott ihre arrogante Haltung des Verachtens anderer kritisch sehen könnte. Wieder sind Hiobs Freunde das beste Beispiel dafür. Aber selbstbewusste Wahrhaftigkeit ist etwas anderes als selbstgerechte Prahlerei, denn sie baut auf einem anderen Grund. „Ja, ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben!“, hält Hiob denen entgegen, die so auftreten (Hiob 12,1). Er selbst ist geistig und geistlich arm. Er besitzt kein reiches Reservoir der Besserwisserei, aus dem er jederzeit schöpfen könnte. Er besitzt seinen Glauben nicht. Sein Gottvertrauen ist darauf angewiesen, dass Gott sich über ihn erbarmt. „Er ist nahe, der mich gerecht spricht.“ „Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?“ Bei Hiob heißt das: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Woher weiß er das in seinen tiefsten Zweifeln und Nöten? Hier schließt sich der Kreis: Er weiß es, weil er hört, „wie ein Jünger hört“. Er hört, weil Gott selbst ihm das Ohr weckt. Das Hören gleicht der leeren, offenen Hand. Sie hat nichts vorzuweisen außer Armut. Das Hören ist reines Empfangen. Es soll Erfüllung finden.

 

Was hören wir da? Du bist geliebt, so wie du bist. Gott ist für dich – wer mag da gegen dich sein? Für dich, genau so, wie du bist. Du bist ihm recht. Er steht zu dir. Er hat ja zu dir gesagt und dabei wird es immer bleiben.

 

DR. HANS-ARVED WILLBERG

ist Theologe, Philosoph sowie Sozial- und Verhaltenswissenschaftler. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e. V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung tätig. Er hat mehr als 30 Bücher und zahlreiche Zeitschriftenartikel veröffentlicht.

Der vorliegende Beitrag wurde zuerst im Magazin CURA ANIMARUM veröffentlicht.

 

www.life-consult.org

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