„Ich kann es nicht länger ignorieren: Ich verliere gerade meinen Glauben! Zu viele Fragen haben sich über die Jahre aufgetürmt, die mein Vertrauen zu Gott mehr und mehr ausgehöhlt haben. Ich bin in einem christlichen Umfeld aufgewachsen und habe recht früh zum Glauben gefunden, wofür ich in weiten Teilen dankbar bin. Doch mittlerweile kann ich die vielen Widersprüche zwischen Anspruch und gelebter Wirklichkeit nicht länger ignorieren. Vor allem scheint Etliches von dem, was mir als absolute Wahrheit gepredigt wurde, der Realität nicht standzuhalten, sprich: im Alltag nicht zu funktionieren. Dazu habe ich nicht wenige Fragen im Blick auf die Bibel, angefangen bei der göttlichen Inspiration schwieriger biblischer Aussagen – allem voran im Alten Testament – bis hin zu für mich oft nicht nachvollziehbaren Haltungen im Blick auf bestimmte ethischen Themen. All meine Fragen finden aber in meiner Gemeinde kaum Gehör, von Antworten, die mich überzeugen, ganz zu schweigen. Alles, was ich weiß ist, dass es so nicht weitergehen kann – auch wenn mir der Gedanke, den Glauben gänzlich hinter mir zu lassen, Angst macht! Eigentlich würde gerne weiterhin glauben und doch erdrückt mich dieses ganze religiöse Korsett. Ehrlich gesagt verstehe ich selbst nicht einmal, was genau gerade mit mir geschieht…“

 

 

Der Verlust eines materiellen Gegenstandes ist in der Regel gut zu verkraften. Manchmal ist die Wiederbeschaffung umständlich (etwa bei einem Autoschlüssel), ein anderes Mal ist sie teuer (wie bei einem Portemonnaie mit Bargeld und etlichen Dokumenten), aber sie ist grundsätzlich möglich.

 

Der Verlust eines materiellen Gegenstandes mit ideellem Wert ist da schon deutlich schwieriger zu verkraften. Denn den materiellen Wert mag man ersetzen können, nicht aber den ideellen. So gerate ich regelmäßig in Panik, wenn ich den Eindruck habe, meinen Ehering verloren zu haben. Klar, ich könnte mir einen neuen Ring besorgen – nur ist das eben nicht der, mit dem ich vor über 30 Jahren geheiratet habe. Vergleichbares gilt für alte Erbstücke, die eine ganz besondere Bedeutung haben.

 

Wenn das Fundament wankt

Noch einmal deutlich schwerer ist der Verlust des eigenen Glaubens. Ob dieser jemals durch einen anderen Glauben ersetzt werden kann, das ist zur Zeit des Verlustes noch völlig unklar. Vor allem aber geht mit dem Glauben auch all das verloren, was ein gesunder Glaube zu vermitteln vermag: Sinn, Geborgenheit, Halt und Hoffnung. Wer seinen Glauben verliert, der verliert damit auch die bisherigen Fundamente seines Lebenshauses!

 

Anders als beim Verlust materieller Gegenstände, ist der Verlust des eigenen Glaubens oft ein schleichender Prozess. Am Anfang ist es nur ein leises Störgeräusch, mit der Zeit aber wird es immer lauter und aufdringlicher:

 

▷ Du hörst etwa einen leidenschaftlichen Prediger davon sprechen, wie du in der Kraft des Heiligen Geistes von Sieg zu Sieg eilen kannst. Doch statt des sonst üblichen „Amen! Halleluja!“ regt sich in dir Widerspruch. Denn du hast eine Freundin, die dir im Glauben gerade darin Vorbild ist, wie sie mit ihren vielen Niederlagen und Schicksalsschlägen umgeht ….

 

▷ In deiner Gemeinde wurde dir stets vermittelt, dass Homosexualität Sünde ist. Inzwischen aber hast du außerhalb deiner „Bubble“ ein schwules Ehepaar kennengelernt, das genau wie du an Jesus glaubt …

 

▷ Über die Jahre hast du gelernt, allen biblischen Aussagen kritiklos zu vertrauen, weil es sich bei der Bibel schließlich um ein Buch handelt, in dem jede Zeile vom Geist Gottes inspiriert wurde. Nun aber stolperst du mehr und mehr über Bibelstellen, die dich ratlos zurücklassen oder gar abstoßen. Und du fängst an dich zu fragen, ob du den Begriff „bibeltreu“ bislang völlig falsch interpretiert hast. Was wäre, wenn wahre Bibeltreue sich dadurch auszeichnet, auch die menschliche Seite der Bibel zu entdecken und die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft nicht länger zu verdrängen?

 

▷ Und auch viele weitere Beobachtungen machen dir zu schaffen: Der Lobpreis holt dich nicht mehr ab, denn insgesamt spiegeln diese Lieder deine Lebenswirklichkeit nicht wider. In deiner Kleingruppe wirst du durch deine vielen kritischen Fragen mehr und mehr zum Außenseiter. Man erklärt dir, deine Fragen und Zweifel seien allesamt teuflische Anfechtungen – nicht nur für dich, sondern auch für die anderen im Kreis. Darum mögest du dich mit ihnen bitte an den Pastor wenden und für dich beten lassen, damit du wieder zum echten Glauben zurückfindest…

Ein gesunder und resilienter Glaube ist nicht statisch, sondern immer in Bewegung! Der Glaube verändert sich, ja er muss sich verändern, um lebendig zu bleiben.

All das ist oft der Beginn einer inneren Zerrissenheit: Zum einen ist die Gemeinde dein geistliches Zuhause. In ihr hast über die Jahre sehr viel Schönes erlebt und dazu waren die Glaubensgeschwister immer für dich da: Sie haben dir Essen vorbeigebracht, als du krank warst. Sie haben dir beim Umzug geholfen. Sie haben für dich gebetet, als du in den Abschlussprüfungen stecktest und vieles mehr. Doch auf der anderen Seite erlebst du dich selbst mehr und mehr als Fremdkörper. Denn wenn du jemanden ansprichst, um über deine Beobachtungen und Fragen zu sprechen, dann erntest du im besten Fall Unverständnis, oft aber auch angstvolle Empörung. Was also kannst du tun?

 

1. Nimm deine Glaubenskrise an

Es mag in deiner Kleingruppe oder auch in deiner Gemeinde vielleicht danach aussehen, aber du stehst in Wahrheit nicht allein da. So wie dir geht es vielen, die in einem christlichen Umfeld aufgewachsen sind und mit der Zeit feststellen, dass ihnen der „Glaubensmantel“, den sie über Jahre getragen haben, nicht mehr passt. Ich gebe zu, dass dies auf den ersten Blick wie ein sehr schwacher Trost klingt. Aber es sollte dir zumindest helfen zu erkennen, dass der Verlust deines gegenwärtigen Glaubens kein moralisch verwerflicher Vorgang ist. Vielmehr ist es eine existenzielle Krise, die du dir nicht ausgesucht hast.

 

2. Suche dir sichere Räume

Wenn du mit Glaubensgeschwistern sprichst, die dir nicht zuhören, sondern dich stattdessen mit einfachen Ratschlägen abspeisen („Du musst mehr beten“, „Du musst einfach vertrauen“ etc.), dann mach dir klar: In der Regel geht es deinen Gesprächspartnern nicht darum, deinen Glauben zu schützen, sondern den eigenen. Dieses Bedürfnis nach Kontrolle ist vielerorts ein riesiges Thema, welches aber oft nicht erkannt wird. Dann wird das eigene Glaubenssystem möglichst perfekt austariert und „wasserdicht“ gemacht. Und immer dann, wenn jemand daherkommt und durch Fragen an den Säulen dieses scheinbar perfekten Glaubenssystems rüttelt, werden solche Christen panisch und manchmal auch aggressiv. Suche dir darum gezielt Menschen, vor denen du schonungslos ehrlich sein kannst und die dich in deinen Zweifeln aushalten.

 

3. Wechsel die Gemeinde

„Wer die Welt aus den Angeln heben will, der braucht einen Punkt außerhalb der Welt“, sagte schon Archimedes. Evangelikale Gemeinden können sehr unterschiedlich sein, so dass es „die eine evangelikale Gemeinde“ schlichtweg nicht gibt. In der Regel aber zeichnen sich die einzelnen Gemeinden durch eine ganz bestimmte Theologie sowie einen vorherrschenden Frömmigkeitsstil aus. Und wenn du nach einem längeren Leidensweg feststellst, dass du mit vielem, was in deiner Gemeinde verkündigt und gelebt wird, nicht länger klarkommst, dann solltest du sie verlassen und dir eine neue geistliche Heimat suchen – so schwer dies auch sein mag. Für manche Christen aus deinem Umfeld bist du damit endgültig „vom Glauben abgefallen“. Aber du darfst dir sicher sein: Gott lässt sich auch jenseits deiner bisherigen Gemeinde finden!

 

4. Bleibe geistlich in Bewegung

Ein gesunder und resilienter Glaube ist nicht statisch, sondern immer in Bewegung! Der Glaube verändert sich, ja er muss sich verändern, um lebendig zu bleiben. Dies lässt sich bereits in der Bibel beobachten, wo scheinbar sichere Glaubenssätze ins Wanken geraten, weil das Leben eine deutlich andere Sprache spricht. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, der verkündet: „Lebe fromm und gut, dann geht es dir auch gut, denn dann wird Gott dich belohnen!“ Er findet sich in zahlreichen Psalmen und ebenso bei Hiobs Freunden. Doch gerade das Buch Hiob macht deutlich, dass Gott nicht gewillt ist, sich unseren Glaubenssätzen anzupassen. Oft ist er der ganz andere Gott, den wir nicht begreifen. Und manchmal ist er auch der verborgene Gott, an dem wir leiden, ohne doch von ihm loszukommen.

 

5. Lass dich von Gott neu überraschen

Lass dir zur Ermutigung gesagt sein: Es gibt einen Glauben jenseits deiner bisherigen Glaubensüberzeugungen – und dieser Glaube ist kein Glaube „zweiter Klasse“! Dazu ein persönliches Beispiel: Mir wird die Bibel umso lieber, je mehr ich mich darin übe, sie ohne die Scheuklappen zu betrachten, die ich mir über Jahre angeeignet habe. So ist für mich das Buch Hiob inzwischen kein Geschichtsbuch mehr, sondern Weisheitsliteratur, die der Autor bewusst wie ein Theaterstück angelegt hat. Glaube ich deshalb nicht mehr richtig? Bin ich nicht mehr bibeltreu? Begegne ich dem Wort Gottes ohne die gebotene Demut? Dazu ein dreimaliges Nein! Vielmehr sage ich mir: Wenn Gott der Erschaffer des Regenbogens ist, dann darf ich endlich auch damit aufhören, ihn lediglich in den Kategorien von „schwarz und weiß“ erfassen zu wollen.

 

Du siehst: Die Welt des Glaubens ist ausgesprochen bunt. Und sie zu entdecken, ist eine nicht endende Reise, voller Abenteuer und unerwarteter Wendungen. Ich wünsche dir von Herzen, dass du deine Beziehung zu Gott mit neuen Augen sehen lernst und Räume für dich erschließt, in denen er dir wieder neu begegnen kann.

 

Volker Halfmann

verheiratet, drei Kinder, ist Pastor, Buchautor und Suchtberater in der Psychosozialen Suchtberatungsstelle des Blauen Kreuzes. Er bloggt unter www.schwereloswerden.de

 

 

 

 

Die Fragen in unserer Rubrik „Glaubensfragen“ sind aus dem Erfahrungshintergrund der Beraterinnen und Berater exemplarisch formuliert worden, sodass jederzeit strenge Vertraulichkeit gewährleistet bleibt. Wir veröffentlichen keine seelsorgerlichen Anfragen an die Redaktion ohne vorherige ausdrückliche Genehmigung der Ratsuchenden.

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