MINDO: Frau Hilbrands, fast jeder kennt das: Man geht ins Bett, will eigentlich schlafen – und schon dreht das Gedankenkarussell seine Runden. Dass man sich über bestimmte Dinge Gedanken macht oder die Erlebnisse des Tages Revue passieren lässt, ist ja bis zu einem bestimmten Grad normal. Ab wann aber wird es ungesund?

 

GRETCHEN HILBRANDS: Es gibt ein gesundes Sorgen und es gibt ein ungesundes Sorgen. Natürlich gibt es viele Dinge, die wir durchdenken müssen. Reflektieren und Analysieren gehören zum Leben dazu. Es ist eine menschliche Angewohnheit, dass wir über Dinge nachdenken – das ist gut, richtig und wichtig. Das gesunde Sorgen ist ein Vor-sorgen – ich mache mir Gedanken, weil ich zum Beispiel weiß, dass ich älter werde. Oder ich habe kleine Kinder und muss bestimmte Dinge einfach in die Wege leiten und mir Gedanken um bestimmte Prozesse machen: „Wie soll das weitergehen als Familie?“ oder „Wo wollen wir leben und wovon wollen wir leben?“ Das ist gesundes Sorgen. In dem Moment aber, wo man sich in Sorgen hineinversteift und sich auf negative Weise immer wieder mit den gleichen Gedanken beschäftigt, da wird’s gefährlich.

 

Aber auch gesunde Sorgen können zu ungesunden werden. Das können sogar Dinge sein, die mich nicht einmal betreffen, oder es kommen Phantasien hinzu und ich male mir Sachen viel schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit sind. Dann muss ich schauen, dass ich da rauskomme, denn diese Sorgen verselbstständigen sich und führen schnell zu ungesundem Grübeln. Grübeln bedeutet, ich drehe die ungesunden Sorgen hin und her, wende sie immer wieder und betrachte sie von allen Seiten. Dieser Prozess ist dermaßen in sich geschlossen, dass daraus nichts Positives entstehen kann. Dass ich immer und immer wieder über dasselbe nachdenke, ist das Kernproblem bei aller Grübelei. Der Grübler leistet Schwerstarbeit, kommt aber zu keiner anwendbaren Lösung.

 

Vor allem nachts nimmt das Gedankenkarussell ja gern Fahrt auf. Der erste Gedanke kommt und wird immer voluminöser und schweißtreibender. Oft beschäftigen einen hierbei Dinge, die man tagsüber nicht verarbeitet hat. Wichtig ist hier, zu erkennen: „Ah, ich muss das tagsüber bearbeiten! Ich muss schauen, welche Sorge eine berechtigte, gesunde Sorge ist – und welche eine unberechtigte und ungesunde.“

 

Raus aus dem Karussell

 

Ich kann mich also quasi tagsüber vorbereiten, sodass ich nachts gar nicht so viel grübeln muss?

 

HILBRANDS: Ja, genau. Wenn ich wieder und wieder das gleiche Thema durchdenke, dann weiß ich, dass das überhaupt nicht verarbeitet ist. Aber: Nicht jedes Gedankenkarussell kann ich nachts komplett zum Stoppen bringen. Wenn ich zum Beispiel am Abend noch bei einem Elternabend war und mich in einer Diskussion sehr stark beteiligt habe, kann das viele Gedanken nach sich ziehen, die dann eventuell auch nachts wiederkommen.

Vor allem nachts nimmt das Gedankenkarussell gern Fahrt auf. Oft beschäftigen einen hierbei Dinge, die man tagsüber nicht verarbeitet hat.

Nun sind manche Menschen von Natur aus eher fröhlich, andere eher melancholisch. Hat die Neigung zum Grübeln etwas mit der Persönlichkeit zu tun?

 

HILBRANDS: Grundsätzlich kann natürlich jeder grübeln, aber es gibt Menschen, die permanent zum Grübeln neigen. Andere wiederum können sich leichter von grüblerischen Gedanken lösen und sie gut von sich wegschieben. Sie sagen sich: „Ne, das bringt gar nichts, dass ich mir darüber jetzt Gedanken mache!“ Es sind vor allen Dingen sensible Menschen, die viel grübeln, weil sie auch viel beobachten. Sie liegen manchmal richtig auf der Lauer und fragen sich: „Was kann ich noch durchdenken?“

 

 

Das heißt, manche Menschen haben sich das Grübeln richtig antrainiert?

 

HILBRANDS: Zum Teil ist es antrainiert, ja.

 

 

Was man sich antrainiert hat, kann man ja – zumindest theoretisch – auch wieder abtrainieren …

 

HILBRANDS: Absolut. Es ist ja immer wichtig, beide Seiten einer Medaille zu sehen: Einmal den theoretischen Hintergrund, der mir hilft, die Problematik zu verstehen, dann aber auch praktische Hilfen, die mir zeigen, wie ich da wieder rauskomme. In dem Buch, das ich zu dem Thema geschrieben habe, habe ich zum Beispiel eine „Sorgenrubrik“ entwickelt, wo man ganz praktisch schaut: Welche Sorgen habe ich? Wie will ich damit umgehen? Was kann ich selber verändern? Das kann man dann nach und nach abarbeiten und kommt später dann auch zu Lösungsmöglichkeiten.

 

 

Wann sollte man sich denn von außen Hilfe holen und wo findet man die?

 

HILBRANDS: Es gibt ja immer die Möglichkeit, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man kann zum Hausarzt gehen und sich dort eine erste Hilfen holen. In schwierigen Fällen, da, wo das Grübeln bereits zwanghafte Züge entwickelt hat, bekommt jemand vielleicht eine Psychotherapie verschrieben. Die meisten brauchen das jedoch sicher nicht. Im Gespräch mit anderen kann auch schon ganz viel von den eigenen Problemen gelöst werden.

 

 

Wie merkt man denn konkret, dass ein Punkt erreicht ist, an dem man alleine nicht mehr klarkommt und man jemanden ins Boot holen sollte?

 

HILBRANDS: Wenn man depressiv wird und sich abschottet. Wenn man gar keine Kontakte mehr zulassen möchte oder wenn man total melancholisch wird und in sich zusammenfällt. Wenn andere einem rückmelden, dass man nicht mehr der Mensch ist, der man immer war und man sich total verändert hat. Das sind einige Anzeichen dafür, dass man sich professionelle Hilfe holen sollte.

 

Es gibt zum Beispiel Selbsthilfe- und Gesprächsgruppen zu bestimmten Themen. Hier ist ja auch immer entscheidend, was man erlebt hat. Wenn man in einer akuten Krise steckt, muss man ganz anders damit umgehen, als wenn man nur belanglos über Dinge sinniert. Manchmal hilft es schon, wenn man mit einer guten Freundin darüber redet, die die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Auch ein Lebensberater kann hier weiterhelfen.

 

Ruhe-Rituale einüben

 

Wie ist es um das Thema „Medikamente“ bestellt? Können die eine Zeitlang mal eine Hilfe sein, um zum Beispiel einfach einmal durchzuschlafen und zur Ruhe zu kommen? Oder wird damit Wichtiges nur verdrängt?

 

HILBRANDS: Ich glaube, da muss man wirklich den Mediziner ins Boot holen. Man sollte nicht einfach ein Medikament nehmen – das finde ich persönlich eher bedenklich. Es gibt einige pflanzliche Möglichkeiten, die man probieren kann, zum Beispiel Fencheltee, da kann man nicht viel falsch machen. Hier könnte ein Apotheker ein guter Ratgeber sein. Außerdem gibt es ja auch das Fachgebiet der Schlafmedizin. Wenn jemand wirklich dauerhaft nicht schlafen kann, würde ich ihm empfehlen, sich einmal an einen Schlafmediziner zu wenden, um die Ursache herauszufinden.

 

Bevor man aber diesen Weg geht, gibt es im Vorfeld einiges, was man selbst ausschalten kann. Viele Menschen kommen abends nicht zur Ruhe, weil ihr Tag total vollgepackt war und sie bis 22 Uhr permanent dabei waren, irgendetwas abzuarbeiten. Wenn ich aber immer gefordert bin, dann muss ich mich nicht wundern, wenn der Körper nicht runterkommen kann und auch das Gehirn keine Ruhe findet.

 

Deshalb muss man vielleicht überlegen: „Kann ich abends irgendein Ritual einbauen?“ Das kann beispielsweise heißen, dass ich ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Telefonate mehr führe oder mich mit bestimmten Themen nicht mehr beschäftige. Ich möchte bewusst ein Ritual anwenden, um zur Ruhe zu kommen. Vielleicht trinke ich einen Früchte- oder Kräutertee, mache noch einen kleinen Spaziergang und lasse den Tag dabei Revue passieren. Und dann sage ich mir: „So, das, was ich gedanklich jetzt noch bewegen könnte, verschiebe ich auf morgen. Für heute ist Schluss!“

 

Auch Licht macht ganz viel aus. Wenn abends immer noch blaues Licht auf mich einwirkt – weil ich am Computer sitze oder vor dem Fernseher – oder ganz grelles Licht im Wohnzimmer, dann kann kein Melatonin ausgeschüttet und das Schlafhormon nicht gebildet werden. Die Folge: Ich komme nicht zur Ruhe. Wichtig ist abends gedämpftes Licht – ein gelbfarbiges, warmes Licht, auch als Nachttischlampe und im Badezimmer.

 

Wenn ich dazu ein Schlafzimmer habe, das vielleicht mit allen möglichen Arbeitsmaterialien vollgestellt ist, ist das nicht besonders hilfreich, um zur Ruhe zu finden. Denn dann gehe ich auf dem Weg ins Bett vielleicht nochmal schnell am Terminkalender vorbei und schaue: „Was muss ich morgen noch alles machen?“ – und schon bin ich gedanklich beim nächsten Tag! Das alles sollte ich lassen, mich bewusst zurückfahren und mir sagen: „Nein, das brauch ich jetzt heute nicht mehr – jetzt ist wirklich Schlafenszeit!“ Und darauf sollte ich mich freuen! Ich sollte nicht denken: „Ich muss schlafen!“, sondern: „Ich darf schlafen.“ Sie sehen: Es gibt es einige Sachen, die man ganz praktisch machen kann.

 

 

Die Bibel fordert uns ja an mehreren Stellen dazu auf, unser Denken zu verändern, an einer spricht sie sogar davon, „unsere Gedanken gefangen zu nehmen“. Wie geht das konkret?

 

HILBRANDS: Ganz wichtig ist hierbei die Frage: „Was machen Gedanken mit mir?“ Sie kommen ja nicht einfach so, sondern sie entwickeln sich. Was also trage ich dazu bei und wie gehe ich mit diesen Gedanken um?

Man sollte nicht denken: „Ich muss schlafen!“, sondern: „Ich darf schlafen.“

Für mich war ein Vers aus den Sprüchen ganz wichtig, den ich in meinem Buch auch an den Anfang gestellt habe: „Was ich dir jetzt rate ist wichtiger, als alles andere: Achte auf deine Gedanken, denn sie beeinflussen dein ganzes Leben“ (Sprüche 4,23; Hfa). Genau das ist es: Ich selber bin gefordert, auf meine Gedanken und Gefühle zu achten. Das, was ich denke, was ich fühle, das entsteht aus den Gedanken. Es gibt eine Handlungskette: Erst denke ich, dann kommen meine Taten hinzu und am Ende dieser Handlungskette steht mein Charakter und mein Schicksal. Ich bin dafür verantwortlich, was ich denke und wie ich damit umgehe. Hierzu gibt es einen wunderbaren zweiten Weisheitsspruch aus Sprüche 20,27: „Gott, der Herr, gab dem Menschen den Verstand, damit er seine innersten Gedanken und Gefühle überprüfen kann.“

 

Eigenverantwortung und Gottvertrauen

 

Grübelgedanken einfach „wegbeten“ funktioniert also nicht?

 

HILBRANDS: Nein. Gott nimmt uns in die Verantwortung hinein. Wir müssen immer den ganzen Prozess sehen: Was machen negative Gedanken mit mir? Wo bin ich selbst verantwortlich dafür? Wie kann ich damit umgehen? Wie kann ich positiv denken?

 

Die Bibel ist ja eigentlich voller positiver Gedanken. Wir sehen oft nur das Negative oder die negativen Auswirkungen einer Sache, aber wir müssen sie immer im Zusammenhang und im Blick auf das Ganze sehen. Gott nimmt uns nicht einfach die negativen Gedanken weg, wenn wir nicht aktiv werden.

 

Wichtig ist, dass wir die Kettenreaktionen kennen und erkennen und verstehen, dass wir hier Verantwortung übernehmen müssen. Es beginnt immer mit einem einzigen Gedanken, den ich noch steuern und in die richtige Richtung lenken kann. Ich kann mich bewusst aus negativem Denken herausbringen und in eine positive Form kommen – und hier darf ich auch damit rechnen, dass Gott mir hilft. Ich darf ihm alles sagen, darf alles mit ihm besprechen und darf darauf hoffen, dass er Veränderung schenkt. Das habe ich selber schon häufig bei mir und anderen erlebt, dass sich plötzlich Dinge ganz einfach haben lösen lassen, von denen man dachte, sie seien überhaupt nicht zu lösen.

 

 

Und zum Schluss: Ein letzter Gedanke zum Thema Gedanken …

 

HILBRANDS: Wir denken in vielfacher Weise – von uns, von anderen, über andere. Wir machen uns Gedanken über alles Mögliche, ohne diese Gedanken zu überprüfen. Es ist nicht schlimm, wenn man dabei Fehler macht, aber es ist schlimm, wenn man Fehler nicht korrigiert. Das, was ich denke, verändert auf lange Sicht den Charakter. Das, was ich denke, das tue ich früher oder später auch, das wird für mich zur Selbstverständlichkeit, das lebe ich. Niemand muss unter dem Gedankenkarussell leiden – man kann aussteigen! Es gibt viele Strategien, wie man Stoppschilder setzen und sich bewusst damit beschäftigen kann, dass sich etwas verändert. Dazu möchte ich Mut machen.

 

 

Frau Hilbrands, vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Inge Frantzen.

 

 

-> Hier geht es zur Rezension von Gretchen Hilbrands Ratgeber „Schluss mit dem Gedankenkarussell“

Gretchen Hilbrands

hält als freiberufliche Referentin und Pädagogin Vorträge und Schulungen rund um Themen, die Lebenshilfe geben. Darüber hinaus schreibt sie für Zeitschriften und hält Radioandachten beim Evangeliumsrundfunk (ERF). Sie ist Autorin verschiedener Ratgeberbücher, u. a. von „Schluss mit dem Gedankenkarussell“ (Brunnen Verlag).

 

www.gretchen-hilbrands.de

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