„Es gibt in meinem Alltag immer wieder Momente, in denen ich denke: ,Allen anderen geht es richtig gut, nur mir nicht!‘, und dann kann ich richtig selbstmitleidig werden. Ich mag das selbst kaum aussprechen, aber wie kann ich mit diesem Selbstmitleid umgehen? Wie komme ich da raus?“

 

 

Selbstmitleid können wir am besten als ein Symptom verstehen, das uns auf einen verborgenen, inneren Schmerz hinweist. Wir können uns das bildlich vielleicht wie eine innere Schürfwunde vorstellen, die nicht gut versorgt ist und eventuell noch blutet. Diese offene Wunde verursacht unser Leiden. Wir erleben einen Mangel – einen Mangel an guter Fürsorge für uns und unsere Bedürfnisse. Und dieser Mangel wird besonders in solchen Augenblicken berührt, wo wir Menschen in unserem Umfeld als glücklich und in großer Leichtigkeit erleben und uns genau danach sehnen.

Selbstmitleid können wir uns wie eine innere Schürfwunde vorstellen, die nicht gut versorgt ist.

Doch wie wollen wir mit dieser inneren Schürfwunde umgehen? „Ach, stell dich nicht so an!“, hilft uns da nicht weiter, denn unser Selbstmitleid verschwindet nicht, wenn wir versuchen, dieses Gefühl zu verdrängen oder dagegen anzukämpfen. Jedoch wird unser Selbstmitleid in dem Maß weniger werden, in dem wir eine gute Wundversorgung vornehmen:

 

1. Selbstmitleid lädt uns ein, uns selbst wahrzunehmen

Das Gefühl des Selbstmitleides wahrzunehmen, ist immer der erste Schritt der Veränderung. Wir sind eingeladen, einmal kurz innezuhalten und uns selbst zuzuhören: „Was genau macht mich so unglücklich? Wo erlebe ich gerade Mangel?“

 

Auch ich erlebe diese Momente. Als ein eher strukturierter und organisierter Mensch, stehe ich immer wieder in der Gefahr, meinen Alltag und damit auch mein Leben, wie eine To-Do-Liste abzuarbeiten. Dabei neige ich dazu, meine eigenen Bedürfnisse gar nicht mehr wahrzunehmen – solange, bis ich unglücklich werde. Oder selbstmitleidig. Da flüstert mir die Lebensfreude und -leichtigkeit, die mein Mann beispielsweise versprüht, scheinbar zu: „Alle anderen machen sich das Leben ganz einfach. Ich bin die Einzige, die es wirklich schwer hat!“ Selbstmitleid dramatisiert. Es kann unsere Wahrnehmung völlig verzerren. Doch richtig eingeordnet kann es uns helfen, dem auf die Spur zu kommen, was den empfundenen Mangel in unserem Leben auslöst.

 

2. Selbstmitleid lädt uns ein, uns und unsere Situation anzunehmen

Selbstmitleid ist unser Ausdruck davon, dass etwas in uns unterversorgt ist, das uns daher traurig macht und nach Trost schreit. Wir haben Angst davor, zu kurz zu kommen oder gar vergessen zu sein. Aber das sind wir nicht. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Kann eine Mutter etwa ihren Säugling vergessen? Fühlt sie etwa nicht mit dem Kind, das sie geboren hat? Selbst wenn sie es vergessen würde, vergesse ich dich nicht! Siehe, ich habe dich in meine Handflächen gezeichnet“ (Jesaja 49,15–16). So spricht es Gott auch uns durch die Bibel zu – mitten in unser Selbstmitleid hinein: „Ich sehe deine Not! Ich weiß um deinen Mangel – und ich vergesse dich nicht!“

Wir sind nicht mehr die Einzigen, wir sind nicht mehr allein. Gott ist da! Und wir dürfen erleben, dass er uns wahrnimmt. Vielleicht viel besser, als wir das selbst tun. Wir dürfen ihm erzählen, was uns quält und worunter wir leiden.

In unserer inneren Verletzung dürfen wir erleben: Gott ist da! Er nimmt uns darin wahr, ganz gleich, wie unbedeutend es uns auch scheinen mag.

Mir erzählte ein Notarzt, dass es einen großen Unterschied macht, ob ein Notfallopfer zum Zeitpunkt seines Unfalls jemanden an der Seite hat, der ihm gut zuspricht, ihm Mut macht und ihn tröstet oder nicht. Ist das der Fall, dann ist die Erstversorgung vor Ort viel einfacher und der Verletzte hat eine höhere Heilungschance. Genau das dürfen wir auch in unserer inneren Verletzung erleben: Gott ist da! Er nimmt uns darin wahr, ganz gleich, wie unbedeutend es uns auch scheinen mag. In diesen Situationen, in denen wir uns selbst kaum aushalten können, nimmt er uns an – so wie wir sind! Und genau das darf uns ermutigen, uns selbst und unsere Situation erst einmal anzunehmen, wie sie ist.

 

 

3. Selbstmitleid lädt uns ein, aktiv zu gestalten

Uns und unsere Situation wahrzunehmen und erst einmal anzunehmen, wie sie ist, hilft uns dabei, sie neu zu gestalten und zu verändern. In dem Vertrauen, dass Gott uns nicht vergisst, wir sogar in seine Handfläche gezeichnet sind, dürfen wir erleben, wie wertvoll er uns erachtet. So wertvoll, dass wir uns selbst wertachten dürfen, gut für uns zu sorgen und Verantwortung für uns zu übernehmen. Unser Selbstmitleid wandelt sich damit zu einer heilsamen Selbstfürsorge. Gott sieht unsere inneren Wunden und lädt uns ein, sie nicht länger beiseite zu drücken oder zu ignorieren. Wir dürfen sie in unsere Hand nehmen und zu konstruktiven Gestaltern unserer Situation werden.

 

In den Momenten, in denen ich selbstmitleidig die Leichtigkeit meines Mannes wahrnehme, neige ich dazu, ihn zu kritisieren: „Wenn du nur ein klein wenig mehr die Dinge mittragen würdest, die mich sorgen und beladen, dann würde es mir besser gehen!“ Wir neigen dazu, andere für unser Leiden verantwortlich zu machen: den Ehepartner, die Kinder, den Chef, die Kollegen, etc. Und das macht uns immer wieder passiv. Doch Passivität verstärkt das Gefühl, Opfer unserer Umstände zu sein. Beginnen wir jedoch, in unseren Möglichkeiten aktiv zu werden, durchbrechen wir unsere negative Haltung und können unsere Kraft in die Verbesserung unserer Situation stecken: „Was kann ich tun, damit es mir wieder besser geht?“ Und: „Was kann ich tun, um meinen Mangel, den ich gerade empfinde, zu versorgen?“

 

In Zeiten, in denen ich aus meinem Abarbeiten meiner mentalen To-Do-Liste nicht mehr herauskomme und nur noch zu funktionieren scheine, hilft es mir, dass ich bewusst gute Zeiten gestalte, die mich stärken. Dann lade ich beispielsweise meine Freundin zum Kaffee ein. Für eine gute Wundversorgung ist es manchmal hilfreich, mit guten Freunden ins Gespräch zu kommen. Denn aus der Distanz können wir einen neuen Blickwinkel einnehmen, der uns wieder offen macht, all das Gute zu sehen, für das wir dankbar sind.

Auf diese Weise kann Selbstmitleid zu einer großen Chance werden, denn wir erhalten die Möglichkeit, unser Leben gut zu gestalten und das Beste daraus zu machen.

Georgia Mix

ist Christliche Beraterin (IGNIS), Referentin und Autorin. Sie ist verheiratet mit Holger und Mutter dreier Töchter. Vor kurzem ist ihr Buch „KostPAARZeiten – Ein Andachtsbuch für Frischverheiratete“  erschienen (SCM Hänssler).

 

www.herzwärts-cb.de

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