„Ich bin seit einigen Jahren Lehrerin. Während dieser Zeit, aber eigentlich auch schon während des Studiums, habe ich immer wieder gemerkt, dass ich sehr perfektionistisch bin und daher sehr hohe Erwartungen an mich selber und auch an andere habe. Mir ist klar, dass ich meine eigenen Ansprüche senken muss, da wir nicht in einer perfekten Welt leben – und dennoch rutsche ich immer wieder in diese Gedanken hinein und überfordere mit meinem Perfektionismus meine Schüler, meine Freunde und auch meine Familie. Das führt logischerweise bei allen Beteiligten – inklusive mir selbst – immer wieder zu Frust und Enttäuschung. Wie kann ich mit meinen Erwartungen besser umgehen?“

 

 

Sie sprechen ein Dilemma an, in dem viele Menschen sich befinden: Sie merken zwar, dass sie immer wieder überhöhte Erwartungen an sich und andere haben, schaffen es deswegen aber noch lange nicht, aus ihren Gedankenstrukturen auszubrechen. Das übermäßige Streben nach Perfektion scheint so tief in ihnen verankert zu sein, dass es sich nicht einfach ablegen oder ignorieren lässt.

 

Wenn das Kind von früher sich meldet

Das Streben nach Perfektion im Erwachsenenalter hat in der Tat tiefe Wurzeln. Jeder Erwachsene war irgendwann ein Kind – und dieses Kind, das wir einst waren, liegt nie völlig hinter uns, sondern existiert in jedem Augenblick in uns und wirkt sich auf alles aus, was wir tun und fühlen. In jeder Situation, die wir erleben, sind wir in gewisser Weise immer auch das Kind von früher, das in der emotionalen Atmosphäre der Vergangenheit lebt – und gleichzeitig der Erwachsene, der die Vergangenheit zu vergessen und gänzlich in der Gegenwart zu leben versucht.

 

Jeder Erwachsene hat das Leben, so wie er es versteht und lebt, in der Umgebung seiner Kindheit erlernt. Welche Eigentümlichkeiten die eigene Familie auch hatte, von ihr hat jeder Mensch das Gefühl erworben, „daheim“ zu sein. Dies ist das Gefühl, das unser „inneres Kind“ auch später im Leben stets sucht. Wir haben eine ständige Neigung, diese frühere Familienatmosphäre und die Haltungen unserer Eltern uns gegenüber wieder in uns zu erzeugen, selbst wenn sie verletzend sind. Darum frage ich: Mit welchen Haltungen Ihrer Eltern haben Sie gerungen? In welcher Atmosphäre sind Sie aufgewachsen? – Oft sind diese Haltungen immer noch wirksam. Sie reagieren weiterhin darauf so, wie Sie es als Kind getan haben.

Wir haben eine ständige Neigung, diese frühere Familienatmosphäre und die Haltungen unserer Eltern uns gegenüber wieder in uns zu erzeugen, selbst wenn sie verletzend sind.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht mir nicht darum, Ihren Eltern für alles die Schuld zuzuschieben, sondern erst einmal zu verstehen, woher die überzogenen Ansprüche und Erwartungen stammen, mit denen Sie heute zu kämpfen haben. Sie setzen als erwachsener Mensch lediglich den Kreislauf von überhöhten Erwartungen und den Versuch, diesen immer besser gerecht zu werden, fort, den das Kind, das Sie einmal waren, als Lebensstrategie angenommen hat. Etwas „perfekt“ zu machen, gab Ihnen als Kind das Gefühl, liebenswert zu sein, bescherte es Ihnen doch die Aufmerksamkeit Ihrer Eltern. Zu verstehen, dass sich hier etwas von Früher wiederholt, ist bereits der erste Schritt zu einem neuen Verhalten.

 

Dem Kind von früher in angemessener Weise begegnen

Der zweite Schritt zur Veränderung ist, Ihre Gefühle als Teil Ihrer Persönlichkeit anzunehmen. Das heißt nicht, dass es in Ordnung ist, sich und andere mit überhöhten Ansprüchen und überzogenem Streben nach Perfektion zu überfordern, sondern es heißt, diese Gefühle erst einmal überhaupt wahrzunehmen und zu akzeptieren. Ansonsten können wir uns zwar aufrichtig bemühen, verantwortlich und reif zu sein, aber wir werden mit Gefühlen und Handlungen unseres Kindes von früher nicht fertig werden, indem wir sie einfach ignorieren.

 

Ein dritter und sehr wesentlicher Schritt ist dann, Grenzen zu ziehen, damit diese alten Kindheitsgefühle die Handlungen und Lebensfähigkeit nicht lenken und beherrschen. Sie können den Entschluss fassen, sich selbst gemäß Ihren eigenen Maßstäben zu behandeln – auch wenn dies erfordert, dass Sie ein Gefühl des „Daheimseins“ aufgeben und einiges an Angst ertragen müssen, bis sich eine neue Haltung und Einstellung sich selbst gegenüber eingespielt hat.

 

In jedem Fall ist Veränderung hier mit geduldiger und phasenweise auch schmerzhafter Arbeit verbunden. Dass auch die biblischen Autoren um die Wehen des Reifens und auch des emotionalen Erwachsen-Werdens wissen, darf uns darin ermutigen. So schreibt zum Beispiel der Apostel Paulus: „Als ich noch ein Kind war, redete ich, wie Kinder reden, dachte, wie Kinder denken, und urteilte, wie Kinder urteilen. Doch als Erwachsener habe ich abgelegt, was kindlich ist.“ (1. Korinther 13,11)

 

Ein Rezept, wie man alte Reaktionsmuster, Perfektionismus und überhöhte Erwartungen quasi über Nacht los wird, gibt es leider nicht. All das bleibt – wie so vieles andere – in der Regel ein lebenslanger Prozess. Und doch müssen wir nicht Gefangene unserer Kindheit bleiben. Bleiben Sie darum geduldig mit sich und freuen Sie sich über jeden Schritt in die richtige Richtung!

Inge Frantzen

ist MINDO-Redakteurin und Systemische Lebensberaterin (IGNIS). 

KEINER MUSS – ABER JEDER KANN.

Alle Beiträge auf MINDO sind frei zugänglich – und so wird es auch in Zukunft bleiben. Das versprechen wir!

 

Die Kosten, die uns monatlich entstehen, werden bisher von Freundinnen und Freunden mitgetragen, die eins unserer Unterstützer-Pakete über „Steady“ gebucht haben.

 

Nur mit Eurer freiwilligen Unterstützung können wir MINDO auch langfristig gestalten und weiter ausbauen.

 

BIST DU DABEI?

 

Weitere Infos: https://mindo-magazin.de/unterstuetzen/

Das könnte Sie auch interessieren