MINDO: Herr Knispel, Sie haben vor einiger Zeit während einer gesundheitlich bedingten Auszeit sehr intensiv über das nachgedacht, was Sie in Ihrem Leben trägt. Ihre Einsichten haben Sie in dem Buch „Wo deine Seele zu Hause ist“ zusammengefasst. Für wen haben Sie es geschrieben?

 

MARTIN KNISPEL: Zunächst einmal: Für mich. Ich wollte mir in dieser mehrmonatigen Auszeit Rechenschaft geben über das, was mich persönlich geprägt hat. Dazu bin ich in der Stille in mich gegangen und habe mich gefragt: Was trägt mich eigentlich? Was sind die wesentlichen Dinge, die meinen Lebensweg geprägt haben?

 

Aber darüber hinaus habe ich das Buch natürlich nicht allein für mich geschrieben, sondern auch für andere, denen ich damit helfen möchte, eine gesunde Spiritualität zu leben. Zum einen für Menschen mit einem christlichem Hintergrund, die vielleicht im Laufe des Lebens ins Zweifeln gekommen sind. Die merken, dass da Dinge nicht so gut gelaufen sind. Damit sie zu der Frage kommen: Was ist eigentlich falsch gelaufen? Gibt es Dinge in der Biografie, die einengend, streng, gesetzlich, verletzend waren? Davon müssen sie sich oft noch viele Jahre später emanzipieren und leider entfernen sich manche dann vom Glauben. Wäre das gut aufgearbeitet worden, dann müssten sie sich nicht davon emanzipieren.

 

Zum anderen aber auch für alle, die auf der Suche sind. Weil Menschen sich nach einer Heimat sehnen, ist unsere Welt geprägt von Religion. Auch die möchte ich abholen, möchte werben für eine gesunde, christliche Spiritualität. Für einen Ort, an dem sie innerlich ankommen – bei Gott und durch ihn auch bei sich selbst.

 

 

MINDO: Was waren denn entscheidende Phasen in Ihrem Leben, durch die Ihr Glaube gewachsen ist?

 

KNISPEL: Zum einen gab es relativ viele Wechsel, sowohl beruflich als auch des Wohnorts. Dieser Prozess des Immer-wieder-Loslassens und Neu-Anfangens ist etwas, das einen mehr mitnimmt, als man wahrhaben möchte. Wenn man ein Land oder Kulturen zurücklässt, einen Ort, den man liebhat, Familie und Freunde – bei mir und meiner Familie war das zwei Mal Afrika –, dann ist das schon äußerlich und innerlich ein großer Aufwand. Dieses Aufbrechen und Loslassen einzuüben, ist ein Weg, auf dem man Reife lernen kann.

Zur Reife gehört auch, das Leben immer mehr anzunehmen, wie es eben nun einmal ist.

Zum anderen war es der Umgang mit Krisen: Wenn man in der Auseinandersetzung mit Menschen reift, an denen man sich reibt. Denn zur Reife gehört auch, das Leben immer mehr anzunehmen, wie es eben nun einmal ist. Wir versuchen im Leben viele Dinge zu deuten und das ist ja auch richtig. Aber vieles bleibt eben auch unerklärlich. Dem einen Menschen geht es sehr gut, er ist auch äußerlich sichtbar gesegnet – ein anderer lebt ganz ähnlich und muss doch schwierige Krisen durchmachen oder mit Einschränkungen leben. Das kann man nicht ändern und Gott behebt all das nicht. Anzuerkennen und manchmal vielleicht auch hinzunehmen, dass das Leben ist, wie es ist, und dass es gut ist, wie es ist – auch das ist ein Lebensschritt der Reife und Weisheit. Es ist besser, ich nehme es aktiv an, als dass ich es nur passiv erlebe und ertrage.

 

 

MINDO: Ist Glaubensreife also eine Frage des Alters?

 

MARTIN KNISPEL: Nicht unbedingt. Es geht vielmehr um die Frage, wie ich Erfahrungen verarbeite und was ich damit mache. Es gibt Menschen, die in relativ jungen Jahren erstaunlich reif sind, andere wiederum sind sehr alt und benehmen wie Kinder, weil sie nicht gelernt haben, an Erfahrungen zu reifen.

 

Andererseits glaube ich schon, dass ein gewisses Maß an Erfahrung in manchen Lebensbereichen von Bedeutung ist. Man muss manche Krisen eben einfach durchlebt und durchlitten haben. Aber dazu muss man kein älterer Mensch sein. Ich glaube zudem auch, dass sich mein Gottesbild ändert, je mehr ich wachse und reife. Gott wird mehr ein Gegenüber, ein Du, er wird vertrauter.

 

 

MINDO: Manche Menschen kommen aus schwierigen Zeiten oder gar Schicksalsschlägen mit einem gestärkten Glauben hervor, manche verlieren Ihren Glauben an die Güte Gottes. Kann man hier im Vorfeld eigentlich hilfreiche Haltungen einüben?

 

KNISPEL: Eins vorweg: Man kann nie für alle Menschen sprechen. Eine große Hilfe, um Resilienz aufzubauen, ist aber ganz sicher ein Glaube, der auf einem gesundem Fundament steht – ein gesunder, befreiender Glaube, der weiß: Ich kann mich jederzeit bei Gott anlehnen und fallen lassen, er trägt mich.

 

Hilfreich ist auch, wenn ich bereits erlebt habe, dass Gott mich trägt und mich diese Gewissheit hält. Wir sollen uns ja nicht berechnend an Gott wenden, sondern vertrauensvoll, weil er unser Vater ist. Wenn ich das nächste Mal diese Erfahrung nicht mache und mich frage, wo Gott jetzt gerade ist, dann trägt mich die Erinnerung an Gottes Treue durch. Gottes Bedingungslosigkeit mir gegenüber verinnerlicht zu haben, zu wissen, dass sie hält und trägt – ich nenne das „Daseinsgewissheit“ –, ist eine wichtige Hilfe, um auch in Krisen standhalten zu können.

 

Aber das kann man nicht grundsätzlich sagen. Ich kann es für mich – hoffentlich – sagen. Darüber hinaus bin ich zurückhaltender geworden. Trotzdem möchte ich daran festhalten, dass der Glaube trägt. Die Bibel ist voller Beispiele – gerade in den  Klagepsalmen oder im Buch Prediger –, in denen Menschen mit Gott hadern und das ihm gegenüber auch ausdrücken. Wir müssen in christlichen Gemeinden zulassen, dass das Hadern und Klagen seinen Platz findet. Das ist etwas Gesundes, hat eine reinigende Kraft. Wir gehen oft viel zu schnell dazu über zu sagen: Wir müssen Gott loben, immer dankbar sein. Das geht mir manchmal zu schnell. Die Bibel ist da viel barmherziger und zeigt uns Menschen, die in einer langen Phase der Klage sind, aber auch, wie sie wieder herausfinden.

 

 

MINDO: Glaube kann Kraft spenden – Glaube kann krank machen. Was sind Ihrer Beobachtung nach die Eckpfeiler eines gesunden Glaubens?

 

KNISPEL: Ein gesunder Glaube ist tragfähig und zeigt sich darin, dass er mich in Aufgaben und Verantwortung stellt. Wir sind nicht für uns selber da, sondern bekommen Aufgaben von Gott, vom Leben, in unseren Familien, an unserem Wohnort, in unserer Gemeinde, denen wir uns stellen sollen. Glaube meint auch, dass wir uns den Menschen, mit denen wir zu tun haben, zuwenden. Gerade in dieser Zuwendung hin zu anderen Menschen liegt auch ein Stück Heilung.

Gesunder Glaube zeigt sich immer auch darin, dass er etwas für andere in dieser Welt tut.

Beim letzten Aspekt sind wir in den letzten Jahrzehnten etwas vom Pferd gefallen, weil wir uns häufig sehr um uns selbst kümmern. Einerseits ist das durchaus etwas Positives, andererseits darf es nicht dazu führen, dass wir uns ausschließlich um uns selbst drehen. Gesunder Glaube zeigt sich immer auch darin, dass er etwas für andere in dieser Welt tut. Bonhoeffer spricht hier vom „Beten und Tun des Gerechten“. Beides drückt aus, wie wir gesund leben können.

 

 

MINDO: Wie sieht das bei Ihnen aus – ist Ihr Glaube gesund?

 

KNISPEL: Super gesund natürlich, besser geht es gar nicht mehr! (lacht) Nein, das können ja nur andere Menschen beurteilen, ob mein Glaube etwas ist, das gesund oder anziehend erscheint. Was ich versuche, ist, im Alltag der Spiritualität Raum zu geben. Das ist in den letzten Jahren mehr geworden und hat sich auch verändert, weg von einem starrem Verständnis hin zu kontemplativem Gebet, zu einem In-der-Gegenwart-Gottes-Sein ohne viele Worte zu machen und mich einfach anscheinen zu lassen von Gott. Das ist nichts Neues, die Mystiker im Protestantismus gibt es schon seit hunderten Jahren. Aber das wiederzuentdecken, ist für mich eine große Befreiung, und ich versuche, dem Raum zu geben, indem ich mir morgens eine halbe Stunde Zeit für die Stille nehme, wenn ich frei habe, auch mal länger. Dabei Gott zu entdecken, das trägt mich.

 

Das andere ist der aktive Einsatz in der Gemeinde und für Menschen in Not. Ich engagiere mich in einer evangelischen Kirchengemeinde und predige dort regelmäßig. In meinem hauptamtlichen Dienst leite ich zurzeit noch bis Ende des Jahres „Tearfund“, ein christliches Hilfswerk, das sich für die Ärmsten der Armen einsetzt, für Menschen, die wirklich in Not sind – im Südsudan, in der Zentralafrikanische Republik, in Pakistan, im Irak, im Jemen und anderswo. Hier ist man ständig mit viel Leid konfrontiert. Das in meinen Glauben hineinzunehmen und anzuschauen, macht auch etwas mit meinem geistlichen Leben, das kann ich nicht einfach abhandeln. Anzuerkennen, dass die Welt gebrochen ist und nicht in einem heilen Zustand, löst etwas aus in meinem Gottesbild, in meiner Wahrnehmung und meinen Prioritäten. Das zusammenzuhalten, kann zu einem gesunden Glauben beitragen. Es gibt für mich keine sieben Schritte, keine monokausalen Antworten darauf, wie gesunder Glaube praktisch aussieht, auch weil Menschen viel zu unterschiedlich sind. Für mich persönlich sind es Stille, Rückzug und der Einsatz für andere.

 

 

MINDO: Und was macht den Glauben krank?

 

KNISPEL: Wenn all das gerade Gesagte fehlt. Wenn Leben nicht mehr ausgewogen ist, sondern verengt wird auf bestimmte Themen. Wenn Menschen nicht wahrnehmen, dass es viele persönliche Wege zu Gott gibt, dass nicht meine eigene Sicht, meine kleine Welt die einzig richtige ist. Wenn ich nicht mehr den Mut habe, über den Tellerrand hinauszuschauen und zu fragen, was Gott sich in anderen Kulturen und Prägungen ausgedacht haben könnte, die über meine kleine Gemeinde hinausgehen – wenn all das nicht mehr möglich oder auch nicht erlaubt oder erwünscht, dann wird der Glaube eng, ängstlich, starr und letztlich krank.

Ein falsches Perfektionsstreben, ein überzogenes Heiligungsbewusstsein, das einhergeht mit einer preußisch-pietistischen Arbeitsethik – das ergibt eine wirklich schwierige Gemengelage!

Ich denke, da steckt eine Angst dahinter, die von einem Gottesbild herrührt, das nicht ausgewogen ist. Zum Beispiel die Angst, etwas falsch zu machen. Für manche Menschen ist Fehler zu machen grundsätzlich schlecht, weil ihr Gottesbild das nicht erlaubt. Das aber deckt sich nicht mit dem Zeugnis der Bibel, wo Menschen immer wieder Fehler machen und Gott sie immer wieder zurückholt. Ein falsches Perfektionsstreben, ein überzogenes Heiligungsbewusstsein, das einhergeht mit einer preußisch-pietistischen Arbeitsethik, das ergibt eine wirklich schwierige Gemengelage! Wenn man dann noch ein verengtes Weltbild hat, in dem genau festgelegt ist, was richtig und falsch ist, dann verengt sich das ganze Leben. Dann wird zwar alles sehr überschaubar, sehr klar und eindeutig – und manche glauben, diese Eindeutigkeit helfe –, aber es macht auf Dauer nicht frei und gesund. Je enger es wird, desto lebensfeindlicher ist es. Ich bin ganz ohne Frage für Orientierung und Klarheit und biblisch fundierte Verkündigung. Aber manche Christinnen und Christen müssen aufpassen, dass das Leben in seiner Vielfalt nicht aus dem Blick gerät, aus lauter Angst, etwas falsch zu machen. Angst ist fast immer ein schlechter Ratgeber.

 

 

MINDO: Sie haben von der „Praxis der Stille“ gesprochen. Diese einzuüben in einer schnellen, lauten Welt, ist sicher sehr herausfordernd. Welche praktischen Tipps können Sie geben, damit man nicht nach wenigen Tagen wieder aufgibt?

 

KNISPEL: Die einfache Antwort lautet: Sich Zeit für die Stille nehmen – da kommt man schlicht nicht drum herum. Was darüber hinaus wirklich sehr hilft, ist, häufiger zu Stille-Tagen zu fahren, sich Hilfe von außen zu holen in einem Einkehrhaus oder Kloster. Man kann mit einem Wochenende beginnen oder drei Tagen mit Begleitung, es müssen nicht gleich zehn Tage Schweigeexerzitien sein. Das kann ich sehr empfehlen, ich mache das seit jungen Jahren recht regelmäßig, und es ist immer eine große Bereicherung.

 

Aber ich muss es mir immer auch erkämpfen, es ist nie Zeit für meine Stille. Man kommt um die tägliche Praxis, es einzuüben, nicht herum. Das ist wie beim Sport, auch da gibt es nichts Gutes, außer man tut es. Es braucht eine gewisse Disziplin, um dranzubleiben, doch irgendwann wird aus einer Übung eine gute Routine.

 

Dabei ist auch die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt wichtig: Wann finde ich in meinem Tagesrhythmus einen Zeitraum, an dem ich mich zur Ruhe lassen kann? Ich sollte davor und danach nicht Vollgas fahren. Für mich ist dieser Moment morgens, da finde ich in der Stille vor aller Arbeit Ruhe und Muße.

 

Dann der Ort: Wo komme ich zur Ruhe? In einem ruhigen Umfeld, ohne Lärm und Ablenkung, an dem ich gerne und bequem sitze, an dem ich mich wohlfühle, vielleicht eine Ecke mit einer Kerze. Es hilft auch, gute, praxisnahe Bücher zu lesen, wie ich Wege zur Stille finde. Man braucht dann etwa zehn Minuten, bis man zur Ruhe kommt. Oft wird empfohlen, sich auf den Atem zu konzentrieren. Für mich hat sich hier auch als sehr hilfreich erwiesen, ganz einfache Psalmworte zu nehmen, wie zum Beispiel aus Psalm 62: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“ Kurze Bibelverse zu meditieren oder ein Lied, das mich sehr anspricht, ist ein Einstieg zur Stille. Dann geht es darum, über die Schwelle zu kommen, ruhig zu werden ohne die tausend Gedanken. Das gelingt mal mehr und mal weniger gut. Es ist und bleibt eine Übung – auch weil es so kostbar ist.

 

MINDO: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Andrea Specht.

 

 

DR. MARTIN KNISPEL

ist Theologe, Pädagoge und Organisationsberater und bewegt sich seit 30 Jahren zwischen den Welten. Der gebürtige Schwabe hat mit seiner Familie viele Jahre in Afrika gelebt und leitete von 2018 bis Ende 2023 das christliche Hilfswerk „Tearfund Deutschland e. V.“. Ab 2024 ist er als Partner der Beratungsagentur „Celius“ unterwegs. Sein Buch „Wo deine Seele zu Hause ist“ ist im adeo Verlag erschienen.

 

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