MINDO: Frau Parasie, auf gute Weise Grenzen zu setzen ist ein Thema, das viele Menschen bewegt. Wann haben Sie selbst eigentlich das letzte Mal eine Grenze gesetzt?

 

LUITGARDIS PARASIE: Eine ziemlich krasse Grenze habe ich gesetzt, als ich zum 1. Mai 2020 pensioniert wurde. Da habe ich vorher meinem Kirchenvorstand und meinen Mitarbeitenden gesagt: „Leute, ich bin erst mal weg! Hier in der Gemeinde werde ich nichts mehr machen.“ Ich bin dann als Urlauberseelsorgerin nach Langeoog und später nach Juist gegangen, so dass ich schon mal bis zum Herbst unterwegs war. Meine Mitarbeitenden waren erst pikiert. Sie dachten, ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Zum Glück konnte ich ihnen klarmachen, dass mir das auch schwerfällt, dass es aber für beide Seiten wichtig ist: Wichtig für mich, weil ich jetzt andere Projekte entwickeln muss, und wichtig für die Gemeinde. Für meine Nachfolgerin wäre es schrecklich, wenn ich weiter Leute besuche, taufe oder beerdige. Das wäre ihr gegenüber nicht fair. Und auch für die Gemeinde wäre es nicht gut gewesen. Ich mache dort übrigens außer in Ausnahmefällen noch immer nichts. Das ist mir noch zu nah und ich merke: Es tut mir nicht gut, wenn ich zu viel mitbekomme.

 

 

Bevor wir tiefer einsteigen: Könnten Sie kurz erklären, was Sie unter einer Grenze verstehen?

 

PARASIE: Eine Grenze definiert ein Territorium: Dies ist unser Gebiet und das ist das Gebiet der anderen. Ländergrenzen definieren auf diese Weise zum Beispiel das Gebiet der Schweiz, Frankreichs oder Deutschlands und so weiter. Genauso gibt es auch im Privaten Territorien, die ich definieren muss: mein Arbeitszimmer, meine Wohnung, mein Garten. Und auch innerlich muss ich Gebiete definieren und sagen: „Bis hierher und nicht weiter! Hier ist eine Grenze – und über die gehe ich oder auch nicht.“

 

Gute Grenzen, schlechte Grenzen?

Würden Sie sagen, dass Grenzen immer gut sind?

 

PARASIE: Eine Grenze ist eine Sache und eine Sache ist weder gut noch schlecht. Aber man kann natürlich zu wenige oder zu enge Grenzen setzen. Ich möchte keine unüberwindbaren Grenzen. Das Schengener Abkommen ist ein wunderbares Beispiel: In Zeiten vor der Corona-Pandemie konnte ich ohne ständige Kontrollen nach Österreich, Frankreich oder Italien fahren. Aber die Grenzen sind klar definiert und bei Bedarf können sie auch mal dichter gemacht werden. Grenzen können also durchaus flexibel sein.

 

 

Zusammen mit Ihrem Mann haben Sie das Buch „Mutig Grenzen setzen mit gutem Gewissen“ geschrieben. Warum ist mutig Grenzen zu setzen so wichtig?

 

PARASIE: Das Thema liegt mir tatsächlich schon sehr lange am Herzen, denn es ist ein Thema, dem ich immer wieder begegne. Ein Beispiel ist unser Leben im Pfarrhaus: Das war eigentlich ein Leben ohne Grenzen. Unsere Kinder fanden es wunderbar: offene Türen, offener Garten – jeder konnte kommen und gehen, wie er wollte. Und das haben die Leute auch gemacht! An einem Sonntagnachmittag kam zum Beispiel ein alter Kirchenvorsteher (er ist inzwischen gestorben) und erzählte mir zwei Stunden etwas über Friedhofsprobleme, während ich im Bikini in der Hängeschaukel saß und mit meinen Kindern spielen wollte. Sonntagnachmittags denkt man ja, man hat frei. Aber da gab es keine Grenze zwischen Dienst- und Privatleben. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und die Leute im Dorf bekamen auch alles mit. Ich war mit Leidenschaft dort Pastorin, wir hatten Jugendkreise und haben Freizeiten organisiert, haben Glaubenskurse durchgeführt, Kinderbibelwochen; es war eine intensive Zeit. Aber nach einigen Jahren hat mein Körper angefangen, sich gegen dieses Distanzlose zu wehren – und ich habe eine Hautkrankheit gekriegt. – Es gibt natürlich viele Kolleginnen und Kollegen, die kommen auch dauerhaft mit dem Leben im Pfarrhaus gut klar. Das Empfinden ist da sehr unterschiedlich.

 

 

Apropos „unterschiedlich“: Jeder Mensch empfindet bekanntlich anders, hat unterschiedliche Bedürfnisse. Woran erkenne ich denn, wo meine persönlichen Grenzen liegen?

 

PARASIE: Das ist eine gute Frage. Ich habe es selbst lange Zeit nicht erkannt. Die Hautkrankheit habe ich anfangs mit allen möglichen Anti-Histaminika behandelt; mein Mann hat mich zu Hautärzten und zur Mutter-Kind-Kur geschickt – ohne Erfolg. Erst während meiner systemischen Ausbildung merkte ich, dass das mit fehlenden Grenzen zu tun hat. Ich war zwölfeinhalb Jahre auf dem Dorf, und nach neun Jahren war es offenbar genug – mein Körper wollte mir das mit dieser Hautgeschichte zeigen. Die Haut ist ein Grenzorgan, die Grenze unseres Körpers nach außen. Sie reagiert sensibel auf Grenzverletzungen. Manche Menschen reagieren auch mit anderen Organen; sie kriegen Magenschmerzen oder Migräne. Es ist wichtig, auf unseren Körper zu achten oder auch mit jemandem zu sprechen.

 

Im Buch erzählen wir von einer Frau, die ihre Schwiegermutter jeden Tag besuchte und sich um sie kümmerte. Nun saß sie bei meinem Mann in der Sprechstunde und beklagte sich über ihren Tinnitus. Mein Mann kannte ihre Situation und fragte: „Wie geht es Ihrer Schwiegermutter?“ Die Frau seufzte: „Ich kann ihr ewiges Gejammer nicht mehr hören!“ Das war verräterisch. Mein Mann meinte: „Fällt Ihnen was auf? Sie können das Gejammer nicht mehr hören, und nun kriegen Sie einen Tinnitus.“ Ihr Körper reagierte mit Symptomen und wollte ihr zeigen, dass sie eine klarere Grenze ziehen musste.

 

Als wir damals aus dem Pfarrhaus weggezogen sind, ist meine Hauterkrankung von einem auf den anderen Tag verschwunden. Ich brauchte keine Medikamente mehr. Einige Zeit später übernahm ich eine andere Pfarrstelle. Wir haben da nicht mehr im Pfarrhaus gewohnt, sondern in unserem eigenen Haus, einige Kilometer von der Gemeinde entfernt. Ich habe nicht weniger gearbeitet als vorher, aber die Grenzen waren klarer definiert. Die Leute wussten, dass sie mich jederzeit erreichen und sich mit mir verabreden konnten, beim Kirchkaffee, über Whatsapp oder Telefon – aber es kam keiner mehr ungefragt in den Garten spaziert.

Unsere Mitmenschen werden nicht immer entzückt sein, wenn wir Grenzen setzen. Aber oft machen klare Grenzen auch die Kommunikation klarer.

Gibt es bestimmte Themen, bei denen es Frauen schwerer fällt als Männern, gesunde Grenzen zu setzen?

 

PARASIE: Bei solchen Fragen läuft man immer Gefahr, dass man irgendwelche Klischees bedient. Aber tatsächlich sind Frauen oft die „Kümmerinnen“: die, die sich um die alternde Oma kümmern, um die Mutter, den Vater, um die kranke Nachbarin oder um die Kinder. Es fällt ihnen oft schwer in diesen sozialen Beziehungen, sich abzugrenzen. Man möchte die „gute Tochter“, die „gute Schwiegertochter“, die „gute Mutter“ sein und denkt, dass man das wird, indem man alles macht.

 

 

Gibt es denn auch Bereiche, wo sich Männer tendenziell schwerer tun als Frauen, gesunde Grenzen zu setzen?

 

PARASIE: Bei den Männern sind es oft berufliche Themen: Der Manager, der auch am Wochenende und abends Mails abruft und ständig erreichbar ist, auch im Urlaub, und der das Gefühl hat, dass es nie ausreicht. Oder der Vater, der überlegt, ein paar Monate in Elternzeit zu gehen, aber auf seiner Arbeit herrscht noch so ein Macho-Klima und er hat Angst, gemobbt zu werden. Weil es in manchen Betrieben dann heißt: Was bist du denn für ein Weichei?

 

 

Woran kann ich eigentlich erkennen, ob eine Grenze gut oder gesund ist – für mich, aber auch für meine Mitmenschen?

 

PARASIE: Die Mitmenschen werden nicht immer entzückt sein, wenn ich Grenzen setze – gerade zu Beginn. Aber oft machen klare Grenzen auch die Kommunikation klarer. Wenn ich aus schlechtem Gewissen heraus Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun möchte, dann spürt mein Gegenüber das. Dann ist meine Zuwendung geteilt und kommt nicht von Herzen. Wenn ich es aber schaffe, mich besser abzugrenzen, und das klar kommuniziere, dann bin ich in den Zeiten, die ich mit dem anderen verbringe, auch ganz da.

 

Nehmen wir die Frau mit Tinnitus. Die kann ihrer Schwiegermutter sagen: „Ich komme jetzt nur noch einmal die Woche, und dann habe ich auch Zeit für dich. Für die anderen Tage kann ich mich gerne darum kümmern, dass jemand vom Besuchsdienst kommt, wenn dir langweilig ist.“ Wenn sie das freundlich und klar kommuniziert, kann die Schwiegermutter damit leben – sie merkt womöglich sogar, dass sie mehr von dieser Regelung hat, weil die Schwiegertochter dann wirklich gerne kommt und ganz für sie da ist.

 

 

Zweimal Ja ist das neue Nein

Das Schwierige beim Grenzen setzen ist ja, dass man auch mal Nein sagen muss. Woran liegt es, dass wir uns damit oft so schwertun?

 

PARASIE: Menschen haben Angst, nicht gemocht zu werden. Ich würde aber gerne wegkommen von dem „Du musst Nein sagen lernen“. Wir plädieren dafür, stattdessen zweimal Ja zu sagen. Das ist positiv, hat mehr Kraft. Zwei Mal Ja ist das neue Nein.

Das habe ich mal in einem Buch gelesen und ich fand es sehr hilfreich: Zum einen sage ich Ja zu mir und zu meinen Grenzen. Die will ich manchmal ja gar nicht wahrhaben, ich möchte gerne alles können und für alle da sein. Der erste Schritt ist also, zu respektieren, dass ich Grenzen habe. Und dazu gehört auch, dass ich Bedürfnisse und Wünsche habe. Ich darf die haben, sie sind okay. Und zum zweiten sage ich Ja zu meinem Gegenüber, meinetwegen zu der Mutter, die ständig Forderungen stellt. Sie hat ihre Geschichte; es gibt Gründe, dass sie so ist. Sie darf so sein, und sie darf diese Ansprüche haben – die sind vielleicht sogar verständlich. Ich muss nicht ständig dagegen anreden. Aber: Ich bin nicht dafür zuständig, alle ihre Forderungen zu erfüllen.

 

 

Meine Beobachtung ist, dass gerade Christen sich oft mit dem Grenzen setzen besonders schwertun. Sie haben die Aufforderung zur Extrameile im Hinterkopf und dass man dem anderen auch noch die andere Wange hinhalten soll. Das alles suggeriert, dass es falsch ist, klare Grenzen zu setzen. Was denken Sie darüber?

 

PARASIE: Wenn Jesus sagt, dass man die andere Wange hinhalten soll, dann geht es im Prinzip darum, unerwartet zu reagieren. Das heißt, nicht immer alles zu machen, was der andere fordert, sondern ihn zu überraschen. Der andere erwartet, dass du zurückschlägst, aber du bietest ihm die andere Wange – und durchbrichst damit einen erwarteten Ablauf. Und die andere Meile mitgehen: Natürlich soll ich großzügig sein, nicht kleinlich alles berechnen. Aber andererseits hat Jesus selber sich super gut abgegrenzt. Er ist zum Beispiel immer wieder auf einen Berg gestiegen und hat gesagt: „So Leute, tschüss, ich muss jetzt für mich sein.“ Und dann hat er Stunden auf dem Berg verbracht, hat gebetet und wollte von niemandem gestört werden.

 

 

Wenn ich nie gelernt habe, gute Grenzen zu setzen: Kann ich das auch als Erwachsener noch lernen?


PARASIE: Das Gehirn ist bis ins hohe Alter flexibel. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass schon in der Kindheit bestimmte „Straßen“ im Gehirn durch Erziehung und Gewöhnung angelegt werden. Aber das funktioniert nicht nur in der Kindheit – das Gehirn ist zeitlebens lernfähig. Natürlich ist es, wenn bestimmte Straßen sehr wenig ausgeprägt sind, schwerer, sie später wieder zu aktivieren oder sogar ganz neu aufzubauen. Aber es geht; selbst als Erwachsener kann man in kleinen Schritten Neues lernen. Von daher gilt diesbezüglich der Satz nicht: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Es ist für Hans oder Grete sicher schwieriger, aber es ist machbar.

 

 

Und zum Schluss: Ergänzen Sie kurz die folgenden zwei Sätze: Wer keine Grenzen setzt, …

 

PARASIE: … der kann sich nicht schützen.

 

Wer mutig Grenzen setzt, …

 

PARASIE: … hat mehr vom Leben.

 

 

Frau Parasie, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Nicole Sturm.

Luitgardis Parasie

ist Pastorin und systemische Familientherapeutin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Allgemeinmediziner und Psychotherapeuten Dr. Jost Wetter-Parasie, hat sie das Buch „Mutig Grenzen setzen mit gutem Gewissen“ verfasst, das vor kurzem erschienen ist (Brunnen Verlag). Das Paar hat drei Kinder und drei Enkelkinder.

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