2012: Melanie und Markus Giger sind beide Anfang 30, haben zwei Kinder, Wunschkind Nummer drei ist unterwegs. Und auch beruflich läuft es gut: Markus ist gerade für die Geschäftsleitung des Bibellesebundes Schweiz angefragt worden. Sie ziehen in ein größeres Haus, kaufen ein größeres Auto. Ihr Gebet in dieser Zeit: dass Gott ihr Leben, ihre Ehe und ihren Dienst vertieft und erweitert. Sie erwarten Gutes. Doch dann passiert etwas, womit niemand gerechnet hat: Ihr Sohn Micha stirbt nur 30 Stunden nach der Geburt! Wie überlebt man so etwas als Paar, aber auch jede und jeder für sich? „Wir haben uns versprochen, das gemeinsam durchzustehen“, sagen die beiden. Wie sie die Jahre der Trauer erlebt haben und wie es ihnen heute geht, darüber hat Nicole Sturm für MINDO mit ihnen gesprochen.

 

 

MINDO: Melanie und Markus, ihr habt nur wenige Stunden nach der Geburt euren Sohn Micha verloren. Wie habt ihr den Moment erlebt, als klar war, dass er wahrscheinlich nicht überleben wird?

 

MELANIE GIGER: Es war ein wahnsinniges Spannungsfeld zwischen Hoffen und Bangen. Diese Ungewissheit: Kommt es gut oder kommt es nicht gut? Wir wussten, dass es beide Möglichkeiten gibt. Wir haben relativ schnell angefangen, dafür zu beten, dass in allem Gottes Wille geschieht. Irgendwo tief im Innern ahnten wir, dass Micha sterben wird.

 

MARKUS GIGER: Es war dieses Spannungsfeld zwischen dem Glauben an Wunder, dem Hoffen und der Realität. Wir wissen: Gott kann eingreifen, aber er muss nicht oder tut es nicht immer. Da war dieser starke Wunsch: „Dein Wille geschehe!“ Als ich nachts zu Hause bei unseren beiden Kindern war, hatte ich ein Bild, wie meine verkrampfte Hand sich löste und öffnete – empfangsbereit für das, was Gott in unserem Leben machen will. Das hat mich ein Stück weit befreit von der Ohnmacht dieser Situation. Ich wusste: Er kümmert sich.

 

MELANIE: Gott hat in dieser Nacht auch zu mir gesprochen. Ich hatte den Eindruck, er bereitet uns darauf vor, dass wir Micha loslassen sollen. Das war natürlich im ersten Moment schon heftig. Das kann man doch nicht machen, sein Kind loslassen, quasi „aufgeben“! Ich wusste: Es beten so viele Menschen, aber wir müssen bereit sein, wenn Gott nicht eingreift …

 

 

SCHNELL ZURÜCK INS LEBEN

MINDO: Hattet ihr damals eine Vorstellung davon, wie der Trauerprozess aussehen würde?

 

MARKUS: Ich bin in einem Seniorenzentrum aufgewachsen. Für mich gehörte der Tod von älteren Leuten zum Alltag. Wir sind beide Pflegefachleute. Da haben wir im Beruf erlebt, dass Leute gestorben sind. Das eigene Kind zu verlieren ist dann aber ein ganz anderes Level. Ich wollte dieses Kapitel möglichst schnell abschließen. Ich habe mir gesagt: Wir sind eine zufriedene Familie mit zwei Kindern, einem Haus, einem guten Job. Ich wollte möglichst rasch nach der Beerdigung zurück ins Leben, wollte meine Lebensfreude nicht verlieren.

 

MELANIE: Ich habe meinen Abschluss auf der Palliativstation gemacht und von daher wurde ich mit sehr viel Leid konfrontiert – auf hohem Niveau, sehr konzentriert. In der Ausbildung habe ich mich mit den Trauerphasen und all dem befasst. Für mich war der Tod immer etwas Natürliches. Aber bei anderen gewisse Sachen mitbekommen und sie begleiten oder selbst drinstehen, das war eine komplett andere Liga! Ich wusste, dass es nicht einfach wird. Aber ich hätte nie gedacht, dass es so heftig wird. In der Anfangszeit, der Schockphase, waren die Emotionen erstarrt. Da denkt man: „Wenn es so bleibt, halten wir das aus.“ Aber als die Gefühle durchbrachen, habe ich mich manchmal echt nicht mehr gekannt.  Das war für mich eine schwere Erfahrung, auch demütigend. Für uns wäre es gut gewesen, wenn wir von Anfang an gewusst hätten, wie lange so ein Weg in etwa dauern kann.

 

 Verloren 2012 kurz nach der Geburt ihren Sohn: Melanie und Markus Giger. | Foto: privat

Verloren 2012 kurz nach der Geburt ihren Sohn: Melanie und Markus Giger. | Foto: privat

 

MARKUS: Für uns war klar, dass wir nicht nach ein paar Monaten wieder zurück im Alltag sind. Ein Jahr habe ich uns gegeben. Dieses Trauerjahr, der erste Todestag – sind alles schwierige Kapitel. Der Marathon fing für mich ab dem zweiten Jahr an, als ich merkte: Die Trauerphasen, Melanies Erleben, unsere Erschöpfung, das zieht sich über drei, vier oder noch mehr Jahre. Das Zeitfenster wurde immer größer. Das war dann auch die Herausforderung für die Ehe. Mir war bewusst, dass Melanie ihre Zeit braucht, auch von ihrer melancholisch-nachdenklichen Persönlichkeit her. Da war mir klar: Der Alltag kommt so schnell nicht wieder zurück.

Als Gefühle durchbrachen, habe ich mich manchmal echt nicht mehr gekannt!

MINDO: Melanie, wie hast du die Zeit der Trauer erlebt?

 

MELANIE: Wenn die Kinder abends im Bett waren, habe ich mir oft bewusst Zeit genommen, um zu trauern. Tagsüber war es so still im Haus, gleichzeitig zu laut durch die Kinder. Für mich war es sehr lang ein Überlebenskampf: Immer kämpfen, was die Erschöpfung anbelangt. Es wäre gut gewesen, wenn wir von Anfang an mehr Unterstützung gehabt hätten von außen. Und dann diese Unterschiedlichkeit von Markus und mir, das war schon nicht einfach. Ich hatte oft das Bedürfnis, ans Grab zu gehen. Das war für mich ein guter Ort, wo ich getrauert habe, wo Tränen flossen. Ich hatte ein großes Bedürfnis zu reden, mich mitzuteilen und auszutauschen. Für mein Umfeld war das schwierig auszuhalten. Die Leute waren oft überfordert, hilflos, sprachlos.

 

 

MINDO: Und du, Markus?

 

MARKUS: Für mich waren es zwei Aspekte. Zum einen wollte ich zurück in den Alltag – an die Arbeit. Ich war 2–3 Monate nicht wirklich konzentrations- und arbeitsfähig. Ich war froh, dass ich ein Team hatte, das für mich Dinge übernommen hat. Trotzdem: Wieder zu arbeiten, das tat gut. Rauskommen, wieder im Alltag sein. Herausfordernd war das Miteinander. Wenn wir zum Beispiel zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wurden: Ich wollte da hin, freute mich, Leute zu sehen. Ich hatte nicht die Erwartung, dass man mich auf Michas Tod anspricht. Und dann wartete ich innerlich nur auf den Moment, wenn Melanie von sich aus erzählt, wie schwierig das Leben ist. Dann war das Thema wieder auf dem Tisch, dann kamen die Tränen, die Sprachlosigkeit der Leute. Ich hatte Angst vor diesen Situationen.

In dieser Zeit habe ich angefangen zu golfen. Für mich war der Golfkurs wichtig, auch im Sinne der Verarbeitung. Ich konnte den Ball mit Kraft und einem Gebet wegschlagen und einfach für mich sein. Für Melanie war das verletzend, denn ihr war bewusst: Ich kann das nur machen, weil Micha nicht da ist. Was dem einen guttut, kann für den anderen verletzend sein. Diese Spannung galt es auszuhalten. Ich brauchte Zeit für mich allein. Da bin ich abends, wenn die Familie im Bett war, oft noch in den Wald ans Feuer gegangen.

 

MELANIE: Für mich war es wichtig, Erwartungen loszulassen. Ich bin oft zum Grab gegangen, Markus sperrte sich eher. Ich habe ihm das zugestanden, aber es war schon auch verletzend für mich. Es hätte mir viel bedeutet, das gemeinsam tun zu können. Oder noch so ein Unterschied: Bei mir flossen viele Tränen, bei Markus kaum. Da nicht anzufangen zu werten …

Wir haben gehört, dass viele Ehen nach dem Verlust eines Kindes zerbrechen. Deshalb haben wir uns schon im Spital versprochen, dass wir das gemeinsam durchstehen wollen. Dass wir akzeptieren werden, wie jeder von uns diesen Verlust bewältigt. Das war eine wichtige Weichenstellung. Aber es in der Theorie zu entscheiden, ist die eine Sache, es in der Praxis auch zu leben eine ganz andere. Wir haben gemerkt: Statt einander Vorwürfe zu machen, lieber sagen: „Das war für mich schwierig, das hat mich verletzt!“, oder auch mehr Wünsche äußern. Das wurde für uns ein guter Weg. Und vor allem auch Dinge suchen, die uns verbinden. Für uns war der Tod von Micha wirklich etwas Trennendes. Da wieder verbindende Projekte zu suchen – gemeinsam ein Hochbeet anlegen, Seminare leiten –, das hat uns geholfen, wieder mehr Nähe zueinander zu bekommen.

 

 

MINDO: Habt ihr zeitnah darüber geredet, wenn euch das Verhalten des anderen verletzt hat?

 

MELANIE: Irgendwann habe ich gespürt: Wir stehen auf dünnem Eis. Ich wusste, es hat keinen Platz. Da fiel die Entscheidung: „Sei Markus eine gute Frau. Achte ihn, schätze ihn, lebe Dankbarkeit. Schau, dass du ihm wieder näherkommst!“ Später konnten wir über diese Punkte reden, aber in diesem Moment habe ich den Schwerpunkt darauf gelegt, dass wir uns wieder näherkommen.

 

MARKUS: Ich mag das Bild von der Fliehkraft: Du kannst sie bekämpfen, aber nur punktuell. Du musst weise sein, wo und wie du Dinge ansprichst. Das Wichtigste aber war, gemeinsam Projekte anzugehen, Gutes zu tun und die Liebe dem anderen gegenüber auszudrücken. Ich schätze die Zweisamkeit. Das war eine einsame Phase, aber ich konnte trotzdem mit Dingen wie dem Beetprojekt oder dem Micha-Stein im Ring meine Hingabe ausdrücken, auch wenn die Fliehkräfte groß waren. Und ja, es gibt Dinge, die wir erst jetzt im Nachhinein, auch beim Schreiben des Buches, so miteinander besprochen haben.

 

IM STURM VERTRAUEN

MINDO: Was waren für euch die größten Herausforderungen?

 

MELANIE: Für mich war es die Erschütterung des Lebens – das Vertrauen in das Leben und in die Beziehung zu Gott. Ich habe mich noch mal stark mit der Bibel auseinandergesetzt. Es hat vieles bei mir erschüttert, das musste ich für mich neu ordnen. Auch weil ich von Gott so enttäuscht war und mich verlassen fühlte. Ich dachte immer, mit Gott kann man alles durchstehen. Aber wenn du dich von ihm verlassen fühlst, ist das ganz schwierig. Aber ich habe mich entschieden, ich bleibe bei ihm – trotz allem. Das andere war die innere, aber auch äußere Einsamkeit. Ich bin ein geselliger Mensch.

Ich dachte immer, mit Gott kann man alles durchstehen. Aber wenn du dich von ihm verlassen fühlst, ist das ganz schwierig.

MARKUS: Melanie hat gute Freundinnen und Freunde in dieser Zeit verloren, aber auch dazugewonnen. Mein Beziehungsumfeld wurde eher kleiner. Vorher war vieles beziehungsmäßiges Netzwerk. Du merkst einfach: Dort, wo Worte fehlen, wo Unsicherheit besteht, da ziehen sich Leute zurück. Unserer Erfahrung nach ist es gut, wenn Leute dieser Sprachlosigkeit und der eigenen Unsicherheit Worte geben können. Distanz hilft nicht. Aber einfach zu sagen: „Ich finde keine Worte für eure Situation …“, schon dieses auf den Trauernden zugehen hilft, weil du das als Betroffener nicht kannst.

 

 

MINDO: Viele fühlen sich ja schon beim Schreiben einer Trauerkarte überfordert, selbst wenn jemand im hohen Alter friedlich eingeschlafen ist …

 

MARKUS: Meiner Erfahrung nach spielt es gar keine Rolle, was du schenkst oder schreibst, solange du keine Erklärungsversuche oder theologischen Belehrungen unternimmst. Wir haben Engel geschenkt bekommen – eine Spiritualität, die uns nicht entspricht. Oder Leute haben auf Facebook Kerzen angezündet. Vorher habe ich mich immer gefragt: „Warum machen die das?“ Dann habe ich gemerkt: Das sind Schulkollegen von früher, katholischer Hintergrund. Die zünden eine Kerze für Micha an! In solchen Situationen nimmt man das plötzlich anders wahr. Also lieber einen Schritt wagen, als nichts zu tun.

 

MELANIE: Du kannst immer Liebeszeichen geben: Einen Sonntagstopf bringen oder Blumen; ein Wochenende die Kinder hüten. Etwas Gutes tun und zeigen: „Ich vergesse dich nicht!“ Damit machst du nie etwas falsch. Es ist gelebte Barmherzigkeit, ganz praktische Liebe.

 

 

Vielen Dank, dass ihr uns an euren Erfahrungen habt teilhaben lassen.

 

 

Das Interview führte Nicole Sturm.

 

 

-> Lesen Sie hier die Besprechung des Buches von Melanie und Markus Giger „Mitten im Sturm“

 

 

MELANIE UND MARKUS GIGER

erzählen in ihrem Buch „Mitten im Sturm“ ihre Geschichte, lassen aber auch theologische Gedanken und praktische Impulse für Betroffene und Wegbegleiter einfließen. Sie möchten Menschen sensibilisieren und Hoffnung schenken. Mehr Infos: www.mittenimsturm.ch

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