MINDO: Herr Dr. Zimmerling, Sie haben in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht, das Jesus als Seelsorger in den Blick nimmt. Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?

 

DR. PETER ZIMMERLING: Die Idee zum Buch ist aus einer Vorlesung erwachsen. Als Praktischer Theologe an der Universität Leipzig ist mein Schwerpunkt das Thema Seelsorge. Und da ich gerade dabei bin, ein größeres Buch über Seelsorge allgemein zu schreiben, bin ich auf die Seelsorge Jesu als Ausgangspunkt aller christlichen Seelsorge gestoßen. Und wegen Corona hatte ich mehr Zeit als gedacht, mich mit ihr näher zu beschäftigen.

 

 

Was fasziniert diesbezüglich so an Jesus?

 

ZIMMERLING: Ich hatte den Eindruck, dass ich dem Wesen Jesu besser auf die Spur kam, als ich anfing, den Blick auf sein Menschsein zu richten, wie es uns in den Evangelien begegnet. Die dogmatischen Aussagen zu seiner Gottessohnschaft sind doch recht abstrakt und unanschaulich. Das gilt besonders für die Feststellung, dass er zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Dagegen erlauben die Evangelien-Geschichten – wie Jesus von Nazareth Menschen begegnet ist, gerade solchen, die in Not waren oder solchen, die sich in der Hierarchie ganz unten befanden – einen Blick in sein Herz.

 

 

Sie haben neben vielen bekannten Bildern für Jesus auch das der „Henne“ aufgegriffen. Dabei steht die Henne in der Skala der beliebten Tiere sicher nicht sehr weit oben …

 

ZIMMERLING: Die Henne ist tatsächlich ein beinahe verwegenes Bild! Ein eindrücklicheres Bild für Nähe als das einer Henne, die ihre Küken unter ihren Flügeln versammelt und sie beschützt, gibt es eigentlich ja nicht. Hinzu kommt, dass es noch nicht so verbraucht ist. Denn wenn man versucht, eine altbekannte Wahrheit immer wieder frisch zu sagen, ist es ganz hilfreich, solche Bilder zu verwenden, die bisher nicht im Vordergrund gestanden haben, die Menschen aufhorchen lassen. „Hirte“ ist ein bekanntes, aber auch abgenutztes Bild, und der Begriff des „Meisters“ oder „Lehrers“ ist mir zu einseitig intellektuell. Auch darum habe ich mich dem Bild der Henne für Jesus als Seelsorger gewidmet.

 

 

Das ist ja ein sehr weiches und auch weibliches Bild. Und doch betonen Sie gleichzeitig, dass Jesus ein „orientalischer Vollblutmann“ war. Warum ist Ihnen das wichtig?

 

ZIMMERLING: Jesus war sehr emotional. Er hatte tiefe Gefühle und konnte sie zeigen, beispielsweise beim Tod seines Freundes Lazarus. Der Theologe und Philosoph Romano Guardini hat in den 1930er-Jahren ein berühmtes Buch mit dem Titel „Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi“ geschrieben. Das Herrsein ist aber nur ein Aspekt seines Wesens. Jesus war auch Mensch und kannte als solcher die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen. Er hatte es auch nicht nötig, einer bestimmten Rolle von Mannsein zu entsprechen. Er lebte sein Menschsein in männlicher Ausprägung – und hatte doch gleichzeitig Zugang zur weiblichen Seite des Menschseins.

Jesus überschreitet Grenzen. Er tut nicht, was „man“ tut. Das ist die Grundlage seiner Seelsorge. Es gibt definitiv keine Menschengruppe, der er sich nicht zuwenden würde.

Jesus liefert keine Rezepte, sondern geht je nach Situation und Gegenüber sehr unterschiedlich vor.

 

ZIMMERLING: Jesus überschreitet Grenzen. Er tut nicht, was „man“ tut. Das ist die Grundlage seiner Seelsorge. Es gibt definitiv keine Menschengruppe, der er sich nicht zuwenden würde. Seine Seelsorge reichte über die Grenzen des Volkes Israel hinaus. Das zu verstehen, war eine wichtige Erkenntnis für die junge christliche Gemeinde, die ja am Anfang nur aus Jüdinnen und Juden bestand. Sie alle waren zunächst überzeugt, dass man zuerst Jude werden musste, um an Jesus glauben und von ihm angenommen zu werden. Die syro-phönizische Frau, von der der Evangelist Markus berichtet, wird aber nicht erst Jüdin, bevor Jesus ihr hilft, und das gleiche gilt für den römischen Hauptmann in Kapernaum, der möchte, dass seine Tochter geheilt wird. Die seelsorgliche Zuwendung Jesu überschreitet die Grenzen des auserwählten Volkes Israel und damit die nationalen Grenzen überhaupt. Das war für den weiteren Weg der jungen christlichen Gemeinde entscheidend, um eine universale Gemeinschaft werden zu können, die aus Mitgliedern aller Völker und Nationen bestand.

 

 

Und er sieht auch immer den einzelnen Menschen und hebt ihn aus der Masse hervor.

 

ZIMMERLING: Ich bin sogar überzeugt, dass der Mensch erst dadurch zum Einzelnen, zur Person, wird, indem Jesus ihn anspricht. In dem Maße, wie ich mich Jesus Christus anvertraue, mich ihm hingebe, werde ich selbst zu einem reifen Menschen. Jesus schenkt mir eine individuelle, unverwechselbare Persönlichkeit.

 

Das zu betonen, ist mir sehr wichtig, weil in Gesellschaften vor der Aufklärung ganz das „Wir“ im Vordergrund stand: die Familie, die Kirche, die Gesellschaft. Jesus gehört zu den Entdeckern des Einzelnen und von dessen unverlierbarer Würde! Das gehört essenziell zu seinem seelsorglichen Handeln dazu. Er nimmt hilfesuchende Menschen aus der Menge beiseite und spricht sie bewusst ganz persönlich an.

 

Als etwa der blinde Bartimäus aus Jericho laut schreit, um Jesus auf sich aufmerksam zu machen, wollen die Jünger ihn zum Schweigen bringen. Er stört sie. Was war denn schon ein Blinder, es gab sie zuhauf! Aber je mehr sie ihn zum Schweigen zu bringen versuchen, desto lauter schreit er. Und Jesus hört ihn und antwortet ihm! Auch Zachäus wird als Einzelner von Jesus wahrgenommen. Er war ein Ausgestoßener, weil er mit den Römern zusammenarbeitete. Ein Sündenbock, der auf den Baum hochklettern musste, um Jesus zu sehen. Ausgerechnet ihn spricht Jesus an und lädt sich bei ihm zum Essen ein.

 

Mit seinem seelsorglichen Handeln lässt Jesus Menschen zu Persönlichkeiten werden. Damit sprengt er die Kultur des Orients, die besagt, dass die Sippe immer wichtiger sei als das Individuum. Jesus sagt: „Du! Bei dir will ich einkehren.“

 

 

 

Dem entspricht, dass Jesus seiner eigenen, seiner leiblichen Familie gegenüber sehr kühl sein kann. Als seine Mutter und seine Geschwister ihn in den Familienverbund zurückholen wollen, weist er sie entschieden zurück. Stattdessen betont er, dass seine Jüngerinnen und Jünger seine neue Familie sind. Sie sind für ihn Vater und Mutter, Bruder und Schwester. An dieser Stelle müssen wir uns klarmachen, was für ein Affront die Reaktion Jesu in einer orientalischen Großfamilie damals darstellte. Bis heute ist in diesen Gesellschaften die Blutsverwandtschaft das Entscheidende.

 

 

Jesus würde also heute eher nicht im Pfarrhaus sitzen und denen Seelsorge anbieten, die sich einen Termin von ihm geben lassen?

 

ZIMMERLING: Nein, definitiv nicht. Er besitzt selbst ja gar kein Haus, lebt nicht bürgerlich. Er lässt sich seine Agenda nicht von den scheinbar unumstößlichen Sachzwängen seiner Zeit vorgeben. Er bleibt frei und unabhängig. Er geht zu den Menschen, lebt drei Jahre lang als Wanderprediger in Israel. Wir sagen oft so fromm: „Jesus lädt in seine Nachfolge ein.“ Zunächst jedoch geht er selbst zu den Menschen. Das stellt eine noch intensivere Stufe der Einladung dar. Er verschickt keine E-Mails oder Briefe mit Anmeldecoupon. Nein, er geht hin und spricht Menschen von sich aus an!

 

 

… und nimmt Sünder an, so wie sie sind.

 

ZIMMERLING: Genau! Im Matthäus-Evangelium wird sichtbar, dass Jesus Menschen ohne Bedingungen annimmt. Die Prostituierten und die Wirtschaftskriminellen haben sich nicht bekehrt, bevor Jesus mit ihnen Tischgemeinschaft hat. Seine Zuwendung geschieht ohne Vorleistungen. Allerdings stimmt das andere auch, was Bonhoeffer einmal so auf den Punkt brachte: Die Nachfolge Jesu ist zwar umsonst – sie kostet aber den, der nachfolgt, das ganze Leben! Es ist ganz klar, dass Jesus erwartet, dass Menschen sich auf ihn einlassen und ihm vertrauen.

Ich bin überzeugt, dass der Mensch erst dadurch zum Einzelnen, zur Person, wird, indem Jesus ihn anspricht. Jesus schenkt mir eine individuelle, unverwechselbare Persönlichkeit.

Jesus ist der Heiland, der Heil-Bringer, der uns Heilung schenken will an Geist, Seele und Leib. Heilung, Wunder und Psychoanalyse – Ihre Haltung dazu?

 

ZIMMERLING: Da gibt es in der heutigen Christenheit auf der einen Seite einen Triumphalismus, der andauernd von Sieg und Wundern redet. Auf der anderen Seite stehen die, die Jesus nichts mehr zutrauen. Wunder gibt es auch heute noch. Aber sie gehen nicht in Serie, weil sie dann keine Wunder mehr sind. Außerdem sollten wir uns klarmachen, dass die geglaubte Wirklichkeit immer größer sein wird als die erfahrene Wirklichkeit. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an Johann Christoph Blumhardt und dessen Sohn, die landeskirchliche Pfarrer waren und beide die Gabe der Heilung besaßen.

 

Heute spielen allerdings in den Landeskirchen Heilungen in der Regel keine Rolle. Anders sieht es in pfingstlich-charismatischen Gemeinden aus. Hier haben sie häufig einen dominierenden Stellenwert. Ja, der Glaube rechnet mit Wundern – aber er sollte nicht mit Triumphalismus verwechselt werden! Wir sollten Kranken keine Versprechungen auf Heilung machen, die nicht gedeckt sind. So etwas ist sehr unseelsorglich und sollte unbedingt vermieden werden. Aber genauso wenig seelsorglich ist es, wenn wir nicht mehr mit Gottes Eingreifen rechnen und so tun, als ob es das heilende Handeln Gottes nicht gäbe.

 

Wir dürfen um Heilung beten, wenn wir hinzufügen: „Gott, dein Wille geschehe.“ Das ist keine Einschränkung, so als ob wir dann weniger Glauben hätten. Jesus selbst hat im Garten Gethsemane in eben dieser Haltung gebetet, als er seinen himmlischen Vater darum bat, nicht sterben zu müssen. Deshalb dürfen wir uns dieses Gebet zum Vorbild nehmen

 

 

Apropos Vorbild: Sie erwähnen immer wieder auch die Sorgenfreiheit Jesu, von der wir lernen können.

 

ZIMMERLING: Das ist eine wichtige Grundeinstellung zum Leben, in die Jesus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger hineinführen will. Er möchte ihnen ein hohes sorgloses Leben im Vertrauen auf Gottes Fürsorge ermöglichen. Dafür hat er in der Bergpredigt wunderbare Bilder von den Lilien und von den Vögeln gefunden: Die Lilien spinnen nicht, sie weben auch nicht und sind doch viel schöner als jedes von Menschen entworfene Kleid. Oder die Vögel, die keine Äcker bebauen und doch von Gott ernährt werden. In diese Lebensspur möchte Jesus uns in seiner Seelsorge bringen.

 

Herr Dr. Zimmerling, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Dorothea Gebauer.

Dr. Peter Zimmerling

ist seit 2005 Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und ist Domherr zu Meißen. Von 2012 bis 2020 war er Erster Universitätsprediger. Sein Buch „Hirte. Meister. Freund – Überrascht von der Seelsorge Jesu“ ist in diesem Frühjahr erschienen (Brunnen Verlag).

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