Kann man als Single mit seiner Sexualität versöhnt leben? Der Therapeut Matthias Hipler sagt ja, und formuliert herausfordernde und Mut machende Gedanken. Nach → Teil 1 gestern, geht’s heute weiter.

 

4. Sexualität bedeutet Körperlichkeit

Viele Menschen gehen kopflastig durch den Alltag. Sie haben nicht genügend gelernt, ihren Körper wahrzunehmen. Manchmal stehen sie in der Gefahr, ihre eigenen Bauchgefühle zu ignorieren. Ihre sinnliche Wahrnehmung liegt teilweise brach. Sie denken mehr, als dass sie spüren.

 

Sexualität entfaltet sich in einer guten Körperwahrnehmung. Sie lebt auf, wenn ich sensibel mit meiner eigenen Leiblichkeit umgehen lerne. Sinnlichkeit ist ein Ausdruck von sexueller Kraft. Sinnliche Menschen nehmen Bilder, Düfte oder Stimmungen intensiver wahr. Sie erspüren den Reichtum an Eindrücken, den ihr Alltag ihnen bietet. Sie erleben die ganze Bandbreite sinnlicher Empfindungen. Sie genießen, was sie sehen, hören oder schmecken. Dazu gehört auch, auf die Stimme des eigenen Körpers zu hören: Wie fühle ich mich im Moment? Was nehme ich an Körperreaktionen bei mir wahr? Wie fühlt es sich in meinem Körper gerade an?

 

Mein Körper ist mein lebenslanges Zuhause. Er gibt meiner Persönlichkeit Gestalt. Er ermöglicht es mir, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und mit ihnen zu kommunizieren. Mein Körper verdient, dass ich ihn wertschätze, bejahe und so annehme, wie er ist. Der Apostel Paulus gebraucht ein sehr eindrückliches Bild, wenn er vom Körper als dem „Tempel des Heiligen Geistes“ spricht. Der Jerusalemer Tempel, den er dabei vor Augen hatte, war ein echter Prachtbau, imposant anzuschauen, ein würdevoller Ort, an dem Gott verehrt wurde.

Ich werde den Rest meines Lebens in diesem Körper verbringen. Da macht es Sinn, mit ihm eine dauerhafte Freundschaft zu schließen.

In den Augen des Schöpfers besitzt unser Körper einen besonders hohen Stellenwert. Er hat ihn wunderbar gemacht. Nun sind die wenigsten Menschen mit ihrem Körper wirklich zufrieden. Sie leben eher im Unfrieden mit ihren Maßen und Proportionen. Sie haben an ihrem „Tempel“ immer etwas auszusetzen. Oft sind es die verschiedenen „Zu“-Vorstellungen, die ein positives Körperbild beeinträchtigen: zu groß, zu klein, zu dick oder zu dünn, zu breite Nase, zu schmale Schultern. Der eigene Körper wird abgewertet. Doch auch wenn keiner den perfekten Body sein eigen nennt, brauchen wir eine positive, annehmende Grundhaltung zu unserem leiblichen Zuhause. Wir müssen unseren Körper mögen, um uns in ihm wohl zu fühlen – und zwar so wie er ist, nicht wie er sein sollte. Ich darf daran arbeiten, mich in meinem Körper heimisch zu fühlen und mich als schön zu sehen. Ich nehme meine Sexualität an, in dem ich mich in meiner Haut zunehmend wohl fühle. Hier liegt ein Schlüssel für ein positives Lebensgefühl. Ich kann ein positives Selbstbild formen, indem ich meine körperlichen Schwächen akzeptiere, meine schönen Seiten in den Blick nehme und mir immer wieder selbst sage, dass ich ganz einverstanden bin mit mir. Ich werde den Rest meines Lebens in diesem Körper verbringen. Da macht es Sinn, mit ihm eine dauerhafte Freundschaft zu schließen.

Zur Reflexion

Welche Sichtweisen bestimmen dein Denken darüber, was einen echten Mann oder eine echte Frau  ausmacht?

 

Für welche vermeintlichen Unzulänglichkeiten lehnst du dich ab? Was würde passieren, wenn du dich mit deinem Körper rückhaltlos annehmen würdest?

 

Wie würde sich eine positive Grundhaltung auf dein Lebensgefühl und deine sozialen Beziehungen auswirken?

 

5. Sexualität braucht zärtliche Berührungen

Bei einem Seminar mit alleinlebenden Frauen und Männern sprachen wir darüber, wie sehr wir uns zu manchen Zeiten nach liebevollen Gesten und zärtlichen Berührungen sehnen und wie dieser Bereich ohne eine Partnerschaft brachliegen kann. Eine Teilnehmerin fasste den Mut, sich von einer anderen Teilnehmerin eine herzliche Umarmung zu wünschen. Mit trauriger Stimme sagte sie: „Ich weiß nicht mehr, wie lange es schon her ist, dass mich ein anderer Mensch einfach mal in den Arm genommen hat!“

 

So wie wir schon als Kinder darauf angewiesen waren, liebevoll berührt zu werden, um uns als liebenswert zu empfinden, benötigen wir auch als Erwachsene körperliche Zuwendung. Ich wünsche mir in Kirchen und Gemeinden eine wachsende Kultur des liebevollen Umgangs miteinander. Der beginnt mit einer Sprache, die wertschätzende Zuwendung ausdrückt. „Schön, dich zu sehen! Du bist willkommen, so wie du bist!“ Aber auch körperliche Gesten, die mir sagen, dass ich gemocht bin, haben einen besonderen Wert. Eine feste Umarmung zur Begrüßung oder zum Abschied. Aufgelegte Hände, mit denen wir einander Segen zusprechen und kleine Gesten im alltäglichen Umgang. Jeder von uns braucht auch Liebe, die über die Haut geht, egal, ob Single oder verheiratet.

 

Liebevolle Zuwendung ist eine bedeutsame Sprache der Sexualität und sie gehört elementar in unsere Beziehungen und Gemeinschaften hinein. An Jesus können wir deutlich ablesen, wie solch ein liebevoller Lebensstil aussehen kann: Obwohl Jesus allein lebte, segnete er liebevoll die Kinder. Er legte Aussätzigen die Hände auf und berührte sie ohne jede Scheu. Er nahm den sinkenden Petrus bei der Hand und hielt ihn fest. Und sein Lieblingsjünger Johannes durfte sich bei ihm anlehnen.

Zur Reflexion

Welche Formen körperlicher Zuneigung hast du schon erlebt und wie ging es dir damit?

 

Welche Art der körperlichen Zuwendung würde dir gut tun?

 

Wie kannst du dein Bedürfnis nach einem zärtlichen Umgang miteinander in deine Beziehungen hineintragen und formulieren?

 

Welche Formen der Zärtlichkeit kannst du selbst an andere Menschen deiner Umgebung weitergeben?

6. Selbstbefriedigung

„Wenn der Schöpfer um jeden Preis hätte verhindern wollen, dass wir uns selbst befriedigen, dann hätte er uns kürzere Arme gegeben!“ Dieser zugegeben flotte Spruch nimmt dem Thema „Selbstbefriedigung“, das in manchen christlichen Kreisen immer noch als Tabu gilt, den übertriebenen Ernst. Bis ins 20. Jahrhundert galt Selbstbefriedigung als moralisch verwerflich und sündhaft und wurde verteufelt. Rückgraterweichung, Schwindsucht und alle anderen möglichen Erkrankungen wurden ihr zugeschrieben. Es mutet heute grotesk an, was zu Zeiten rigider Sexualauffassungen alles unternommen wurde, um Selbstbefriedigung bei heranwachsenden Jungen zu unterbinden. Erzieher erfanden Handschuhe oder spezielle Käfige, die es ihren Zöglingen unmöglich machen sollten, sich an ihren Geschlechtsorganen manuell zu betätigen.

 

Der häufig verwendete Begriff „Masturbation“, der aus dem Lateinischen kommt und soviel wie „mit der Hand entehren“ bedeutet, wertet diese Sexualpraktik sehr ab. Ich halte Selbstbefriedigung für eine sexuelle Praktik, die sehr differenziert betrachtet werden muss. Interessanterweise findet sich in der Bibel keine einzige Aussage zu diesem Thema. Das alttestamentliche Beispiel Onans, von dem der irreführende Begriff „Onanie“ abgeleitet wurde, sagt lediglich aus, dass dieser sein Sperma auf die Erde fallen ließ, um sich so der Pflichtehe mit der Frau seines Bruders zu entziehen (1. Mose 38,1–11). Ob er dabei Selbstbefriedigung oder den unterbrochenen Geschlechtsverkehr praktizierte, spielt keine Rolle, weil es um die Erbfolge und nicht um Sex ging.

 

Fast alle Heranwachsenden praktizieren Selbstbefriedigung. Diese Erfahrung gehört zu einer normalen Sexualentwicklung. Sie lernen ihren eigenen Körper besser kennen und experimentieren spielerisch mit ihren eigenen sexuellen Lustempfindungen. Für manche Jugendliche entstehen erst dadurch starke Schuldgefühle, wenn die Eltern schockiert oder ablehnend darauf reagieren, statt ihnen in dieser spannenden und manchmal sehr spannungsreichen Zeit des Erwachsenwerdens verständnisvoll zur Seite zu stehen. Der Jugendliche erlebt, wie sein Körper genauso reagiert, wie Gott sich das gedacht hat mit dem ganzen Spektrum an schönen Gefühlen. Wenn er aber gleichzeitig durch Eltern oder andere Autoritätspersonen vermittelt bekommt, dass Selbstbefriedigung etwas Schlimmes ist, führt ihn das in eine innere Zerrissenheit.

 

Für Alleinlebende, die allein die Ehe als den von Gott gegebenen Rahmen für partnerschaftliche Sexualität akzeptieren, bietet die Selbstbefriedigung die einzige Möglichkeit, sich sexuell zu entspannen. Leidenschaftliche sportliche Aktivitäten können auspowern, ein genussvolles Eintauchen in tolle Musik kann einem sehr viel geben, aber sie ersetzen nicht die Auflösung sexueller Anspannung durch Selbstbefriedigung. Darum meine ich: Wer als Single Selbstbefriedigung praktiziert, ist völlig okay. Mit unerfüllten Partnerwünschen zu leben, ist für viele schon schwer genug. Sie zusätzlich mit dem moralischen Zeigefinger der Sünde der Selbstbefriedigung anzuklagen, beschwert nur, statt zu helfen.

 

Doch natürlich gibt es auch ein problematische Seite: Alleinlebende, die sich selbst sexuell stimulieren, bleiben letztlich auf sich selbst gerichtet. Selbstbefriedigung kann niemals das leidenschaftliche Liebesspiel innig verbundener Partner ersetzen. Insofern bleibt sie immer eine Form der Ersatzbefriedigung. Aus vielen seelsorgerlichen Gesprächen weiß ich, dass für manchen die Selbstbefriedigung zu einem echten Problem werden kann. Nicht selten verbergen sich dahinter tiefer liegende Konflikte. Einsamkeitsgefühle, Angst vor Nähe und Intimität, die Unfähigkeit, Spannungen auszuhalten oder die Entlastung von Unlustgefühlen bilden mögliche Ursachen. Frauen und Männer nutzen die Selbststimulation, um sich in eine Phantasiewelt wegzuträumen. Sie wird zu einem Schrei nach Liebe, Wärme und Geborgenheit. Fatal daran ist jedoch, dass durch Selbstbefriedigung keine Einsamkeitsgefühle bewältigt werden können. Nach dem Orgasmus kehrt das Gefühl, alleine zu sein, oft doppelt schmerzlich zurück. Der Frust ist groß. Ich bleibe in mir selbst gefangen und werde mit meiner Einsamkeit erneut konfrontiert. Um diese Frustgefühle loszuwerden, bietet sich die wiederkehrende Selbstbefriedigung als scheinbarer Ausweg an. Doch auf diese Weise kann sie schleichend einen Suchtcharakter bekommen.

Allen Singles sage ich: Lebe fruchtbar und kreativ, wage Hingabe an Aufgaben und Menschen, vertiefe die freundschaftliche Beziehung zu deinem Körper und verschenke die Zärtlichkeit, die in dir liegt.

Ich halte es für sehr wichtig, nicht einen erbitterten Kampf gegen Selbstbefriedigung zu führen. Auch durch geistliche Übungen wie zum Beispiel die Beichte geschieht keine automatische Verhaltensänderung und Befreiung. Deshalb empfehle ich Betroffenen, die verborgenen Hintergründe einer zwanghaften Selbstbefriedigung mit einem Seelsorger oder Berater zu erarbeiten und nach Wegen zu suchen, wie eigene Verhaltensweisen korrigiert werden können. Statt gegen die Selbstbefriedigung anzukämpfen, empfehle ich neue, mutige Schritte ins Leben zu wagen. Konkret bedeutet das, Bekanntschaften und Freundschaften zu knüpfen und zu vertiefen. Ein gesundes Gemeinschaftsgefühl in tragfähigen Beziehungen hilft dabei, Frust abzubauen. Alles, was Lebenslust und Glaubensfreude neu zu wecken vermag, löst die Fixierung auf die Selbstbefriedigung.

 

Eine besondere Problematik ergibt sich besonders für männliche Singles durch das Internet. Wer seine Phantasie beständig mit erotischen oder pornographischen Bildern füttert, darf sich nicht wundern, ständig unter sexueller Spannung zu stehen. Input ist auch hier gleich Output. Was wir visuell in uns aufnehmen, bestimmt unsere Vorstellungswelt. Unzählige Sex-Anbieter haben inzwischen aus dem Bedürfnis nach anonymem Solo-Sex ein Milliardengeschäft gemacht. Nie zuvor war es einfacher als heute, sich losgelöst von einer Liebesbeziehung sexuell anzuregen. Aber so einfach es ist, per Maus-Klick stimulierende Bilder oder Filme auf den Bildschirm zu holen, so schwer wird man(n) sie wieder los!

 

Ich träume davon, dass jede christliche Gemeinde den seelsorgerlichen Raum bietet, in dem sich von (Internet-)Pornografie Betroffene vertrauensvoll austauschen und ermutigen können. Dabei leiden nicht nur Alleinlebende, sondern auch Verheiratete gleichermaßen unter den Versuchungen der Pornografie.

 

Einen weiten Blick gewinnen

Ich wünsche mir, dass meine Gedankenanstöße etwas den Blick dafür geweitet haben, dass Sexualität eine kostbare Gabe ist, die Singles in vielen verschiedenen Bereichen und auf eine lebendige, kreative Art ausleben können. Sie reicht weit über die sexuellen Aktivitäten in einer Partnerschaft und Ehe hinaus. Dass Singles ihre eigene Sexualität wahrnehmen, sie bejahen und in ihr Leben integrieren, bleibt eine ungeheuer spannende Aufgabe. Ihnen allen sage ich: Unabhängig davon, ob du einmal in der Zukunft eine Partnerschaft findest oder alleine bleiben wirst: Lebe fruchtbar und kreativ, wage Hingabe an Aufgaben und Menschen, vertiefe die freundschaftliche Beziehung zu deinem Körper und verschenke die Zärtlichkeit, die in dir liegt! All das, was deinem Leben neu und vermehrt Lebendigkeit verleiht, wird dir dabei helfen, auch mit den ungestillten Sehnsüchten in Frieden und zufrieden zu leben.

Matthias Hipler

ist Coach und Theologe und betreibt eine Praxis für Psychotherapie, Paartherapie und Coaching in Hanau.

 

www.psychotherapie-hipler.de

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