Silke sitzt mir mit hängenden Schultern gegenüber. Gestern hat ihre Freundin Meike ihr mal wieder vorgehalten, dass sie „die Sache“ nicht loslässt. „Die Sache“ ist ein Projekt, in das Silke jahrelang viel Herzblut, Zeit und Energie gesteckt hat. Leider ist es schon relativ zu Anfang zu Streitigkeiten im Team gekommen, das Projekt geriet ins Stocken. Silke investierte daraufhin noch mehr Energie in die Arbeit, aber irgendwann war sie einfach nur noch müde. Ihr Herz hing aber weiterhin an dem Projekt – eine Zwickmühle! Seit einiger Zeit ist Silke klar, dass es so wirklich nicht weitergehen kann. Sie hat einen Schlussstrich gezogen, zumindest auf dem Papier. Aber ihr Herz und ihre Emotionen sind noch immer mit der Vergangenheit verquickt. Das ist es, was ihre Freundin ihr vorwirft. Silke möchte loslassen, aber richtig klappen will es irgendwie nicht …

 

Ich lasse los! Wirklich?

Aus diesem Grund sitzen wir uns nun also gegenüber. „Wann immer ich die anderen Teammitglieder in der Stadt sehe, versetzt es mir einen Stich. Das Projekt war etwas Besonderes. Ich hänge noch immer daran“, erzählt Silke. Bisher ist sie das „Projekt Loslassen“ immer als Gesamtpaket angegangen: „Ich lasse alles los, was damit zusammenhängt!“ Geklappt hat es offensichtlich nicht. Und so frage ich sie nach ihren Erwartungen und Hoffnungen, die sie an das Projekt hatte. Wir sprechen darüber, welche davon realistische Erwartungen waren und was eher (unausgesprochenes) Wunschdenken ihrerseits. Schnell wird klar, dass die Hoffnungen groß waren und dass es ihr deshalb auch nicht leichtfällt, sie einfach loszulassen – selbst jetzt, wo klar ist, dass sie sich nicht erfüllen werden. Wir sprechen über das Projekt, aber ebenso über die Beziehung zum Team und Zukunftspläne, die ans Projekt geknüpft waren. Welche Gefühle sind jetzt da, wo Silke weiß, dass die Dinge sich anders entwickelt haben als gedacht? „Traurigkeit“, lautet Silkes spontane Antwort. „Und was noch?“, hake ich nach. Nach kurzem Nachdenken fallen dann Worte wie „Wut“, „Enttäuschung“, „Unsicherheit“ und auch „Einsamkeit“.

Es ist wichtig, konkret zu sein in dem, was man loslassen will. Nur so werden wir bereit für Neues.

Es ist gut und wichtig, die ganze Palette zu benennen. „Ich war mir so sicher, dass das alles Gottes Weg für mich ist …“, erzählt Silke. Jetzt ist sie unsicher, ob sie nach dieser scheinbaren Fehleinschätzung noch mal ihrem Gefühl trauen sollte. Da ist Groll auf einen Kollegen, aber ebenso auf sich selbst, weil sie nicht schon früher die Reißleine gezogen hat. So sprechen wir über das Thema Vergebung und dass es dabei nicht nur darum geht, anderen zu vergeben, sondern auch sich selbst.

 

Schreib einen Abschiedsbrief

Am Ende unseres Treffens ist das, was Silke loslassen möchte, viel greifbarer als vorher: nicht nur einfach „das Projekt“, sondern auch die damit verbundenen Erwartungen, Gefühle, Gedanken. Wir vereinbaren, dass Silke alles noch einmal in einer Art Abschiedsbrief zu Papier bringt. In den nächsten Tagen werden ihr sicher noch mehr Dinge einfallen, die sie im Zusammenhang mit dem Projekt loslassen will. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werden wir gemeinsam diesen Abschiedsbrief lesen. Und wenn es sich „rund“ anfühlt, alles in einem symbolischen Akt loslassen. Wie das aussehen könnte, wird Silke sich überlegen.

 

Es ist wichtig, konkret zu sein in dem, was man loslassen will. Nur so werden wir bereit für Neues, ohne von Vergangenem weiterhin getriggert zu werden.

Nicole Sturm

lebt und arbeitet in Norddeutschland und unterstützt als psychotherapeutischer Coach (Heilpraktikerin für Psychotherapie) Menschen in den Herausforderungen des Lebens – online per Mail oder auch telefonisch. Mehr Infos finden Sie hier: www.vorwärtsleben.de

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