MINDO: Nicole, leichter zu leben – danach sehnt sich eigentlich jeder. Warum löst allein der Gedanke an Leichtigkeit eigentlich so ein positives Gefühl in uns aus?

 

NICOLE STURM: Das positive Gefühl entsteht durch die Dinge, die man mit dem Wort „leichter“ verbindet. Was das konkret ist, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Ganz allgemein dürften es aber Dinge sein, die man als besser empfindet: Etwas wird leichter, ist nicht mehr so schwer oder beschwerlich wie bisher. Es zieht einen nicht mehr runter – und das ist definitiv etwas Gutes!

 

 

Was macht uns heute das Leben denn am ehesten schwer? Die Menschen vergangener Jahrhunderte mussten ganz objektiv betrachtet sicher unter schwierigeren Bedingungen leben als wir. Oder ist das ein Irrtum?

 

STURM: Was die äußeren Gegebenheiten angeht, hatten die Menschen es ganz sicher schwerer. Dafür habe ich den Eindruck, dass die große Freiheit, die wir heute genießen dürfen, für viele zur Last wird. Es gibt unsagbar viele Möglichkeiten, Informationen überfluten uns, die Ansprüche an das Leben und auch an sich selbst werden immer höher und gleiten irgendwann, von vielen unbemerkt, in eine Realitätsferne ab, die nicht hilfreich ist, Stichwort „Selbstoptimierungswahn“.

 

 

Nun ist „Ich will leichter leben“ natürlich leichter gesagt, als getan. An was scheitern die meisten bei der Umsetzung?

 

STURM: Das größte Problem dürfte sein, dass die meisten zwar recht genau wissen, was sie nicht mehr wollen, aber kein klares Bild davon haben, wie es stattdessen sein soll. Das Leben soll leichter sein – aber was genau bedeutet das? „Nicht mehr so beschwerlich wie bisher“ ist kein hilfreiches Ziel, denn es beschreibt nur das Alte, das man nicht mehr will. Hilfreicher wäre es, sagen zu können, wie sich dieses „Leichter“ zeigt. Woran kann man später festmachen, dass man das Ziel erreicht hat?

Normalerweise wird aus solchen Prozessen kein Egotrip. Im Regelfall geht es um einen heilsamen Prozess, in dem Belastendes abgelegt wird.

Ein anderer Punkt ist sicher auch der, dass viele Menschen Zielen nachjagen, die gar nicht ihre eigenen sind, sondern das Ideal von Freunden, Familie, Arbeitskollegen, den Medien. Hier lohnt es sich, sich die Zeit zu nehmen, um noch mal genauer hinzuschauen und sich zu fragen: Was möchte ich?

 

 

Da möchte jemand sein Berufsleben, sein Beziehungsleben und seine Freizeit leichter gestalten, kann aber schwerlich alle Baustellen zugleich in Angriff nehmen. Was wäre hier ein umsetzbarer erster Schritt?

 

STURM: Ganz klar: priorisieren! Welche Baustelle erzeugt den höchsten Leidensdruck? Wo verspürt man die größte Motivation zur Veränderung? Oftmals ist das ein Punkt, wo man den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Dann kann es hilfreich sein, jemanden um Hilfe zu bitten, der den nötigen Abstand zur Situation hat. Das kann ein guter Freund sein, aber auch ein Coach. Sobald man sich für einen Lebensbereich entschieden hat, kann man die anderen Baustellen guten Gewissens erst einmal ausblenden und sich voll auf das gewählte Thema konzentrieren. Baustellen zu erkennen und sie bearbeiten zu wollen, ist absolut lobenswert. Aber die Erfahrung zeigt, dass es meist hilfreicher ist, sich eine nach der anderen vorzunehmen, anstatt alle auf einmal.

 

 

Wie wirkt es sich auf einen Menschen aus, wenn er sein Leben dann tatsächlich leichter macht, indem er seinen Alltag, seine Beziehungen, seine Arbeit, und vielleicht auch seinen Glauben „entrümpelt“?

 

STURM: Er kann aufatmen, gewinnt an Energie, sieht wieder klarer.


Und wie vermeidet man, dass diese Übung am Ende zum Egotrip wird, der auf Kosten anderer geht?

 

STURM: Zuerst einmal möchte ich vorausschicken, dass das eher die Ausnahme ist. Normalerweise wird aus solchen Prozessen kein Egotrip, es sei denn, die Person war schon vorher ein Egoist. Dann hat er seinen Egoismus aber vermutlich auch früher schon ausgelebt, nur vielleicht etwas verdeckter. Im Regelfall geht es um einen heilsamen Prozess, in dem Belastendes abgelegt wird, beispielsweise hinderliche Denkmuster. Wenn jemand sich mit der Befürchtung, solch ein Prozess könnte für ihn in einem Egotrip enden, rumschlägt, würde ich raten, das eigene Kopfkino zu hinterfragen: Woher kommt diese Angst? Was sind meine konkreten Befürchtungen? Zum anderen würde ich vorschlagen, sich eine Art menschliches Sicherheitsnetz zu bauen: Suchen Sie sich Personen Ihres Vertrauens, die Sie in den Prozess mit einbeziehen und denen Sie die Erlaubnis geben, Entwicklungen gegebenenfalls wohlwollend-kritisch zu hinterfragen.

 

 

Bitte ergänzen: „Leichter leben“ lohnt sich, weil …

 

STURM: … es befreit und Raum gibt, zu sein.

 

 

Liebe Nicole, vielen Dank für diese aufschlussreichen Impulse.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

 

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NICOLE STURM

(Jg. 1982) hat Theologie studiert und arbeitet als auf psychotherapeutische Themen spezialisierter Coach in Norddeutschland. Sie liebt es, kreativ zu sein, und schreibt für ihr Leben gern (ihr Buch „Vorwärts leben“ ist bei scm erschienen) – zwei Dinge, die sie bewusst in ihre Arbeit einfließen lässt. Neben klassischen Coachings vor Ort liebt sie es, Menschen online per E-Mail in Veränderungsprozessen jeglicher Art zu begleiten: www.vorwärtsleben.de

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